Douwe Draaisma: “Die Heimwehfabrik – Wie das Gedächtnis im Alter funktioniert”

Wie alt ist das älteste Gedächtnis der Niederlande? Die Antwort scheint einfach: so alt, wie der älteste Niederländer. Douwe Draaisma erzählt von Hendrijke Schipper aus Hoogeveen, die 2005 immerhin 115 Jahre alt und somit mit Abstand die älteste Niederländerin war. Ihre früheste Erinnerung müsste folgerichtig die älteste Erinnerung der Niederlande sein.

Hendrijke Schipper ist 1890 zur Welt gekommen und erinnert sich daran, wie sie als kleines Mädchen auf einer Kieke, einem Fußwärmer, bei ihrer Großmutter saß und eine Rolle Garn aufwickeln sollte.

Aber ist das wirklich die älteste Erinnerung? Und erinnert sie sich an diese Situation, wie sie wirklich war? Oder vielleicht nur daran, wie sie diese Geschichte schon hundert Mal erzählt hat? Oder hat man ihr selbst womöglich nur als Kind davon erzählt, wie sie einst bei ihrer Großmutter saß und das Garn aufwickelte, und über die Jahre hat sie sich diese Szene aus Bruchstücken anderer Erinnerungen zu einer ersten Erinnerung zusammen gesetzt?

Je länger wir diese Frage betrachten, desto deutlicher wird, dass wir es hier mit einem hochkomplexen Thema zu tun haben: Was ist Erinnerung? Wie funktioniert unser Gedächtnis? – Neurologen gehen davon aus, dass jede Erinnerung eine neue neuronale Spur in unserem Gehirn hinterlässt. Demnach ist die Erinnerung im Grunde ganz frisch, wenn uns eine Hundertfünfzehnjährige heute von ihrer Kindheit erzählt, auch wenn die Ereignisse über einhundert Jahre her sind.

Douwe Draaisma ist Professor für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen und beschäftigt sich seit Jahren mit der Gedächtnisforschung. Sein Buch „Die Heimwehfabrik“ nimmt uns auf dem Umweg über die Untersuchung der Erinnerungsfähigkeit alter Menschen mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Seine Erkenntnisse vermitteln ein ganz neues Bild des Gedächtnisses alter Menschen und seiner Funktionsweise.

Oliver Sacks, berühmter englischer Psychologe und Autor, ist der Meinung, dass Erinnerungen keineswegs auf einer bloßen Reaktivierung alter Gehirnspuren basieren, sondern immer Rekonstruktionen sind, und wie man sie rekonstruiert, hängt davon ab, wie alt man ist (Draaisma, S. 126).

In der Tat beweisen sowohl Untersuchungen als auch die eigene Erfahrung, dass alte Menschen Erinnerungen anders erzählen und die erzählten Wirklichkeiten rekonstruieren, je länger die Erinnerungen zurück liegen. Douwe Draaisma erklärt in seinem Buch, warum das so ist. Es gibt hunderte verschiedener Arten von Gedächtnis. Der kanadische Psychologe Endel Tulving hat sich im Rahmen eines Projekts die Mühe gemacht, eine Liste zu erstellen, und kam auf 256 verschiedene Varianten.

Die Sorge um die eigene geistige Fitness im Alter und die Besorgnis erregenden Zahlen von Altersdemenz und Alzheimer-Erkrankungen haben im Laufe der Jahre eine ganze Industrie entstehen lassen, die unsere geistige Fitness erhalten und trainieren helfen soll. Dr. Kawashimas Gehirn-Jogging und die allgegenwärtigen Sudokus sind nur zwei prägnante Beispiele dieses weltweiten Trends. Auch hiermit beschäftigt sich der niederländische Psychologe ausführlich.

„Die Heimwehfabrik“ ist ein kleines, aber sehr unterhaltsames und lehrreiches Büchleins über die Besonderheiten des Gedächtnisses alter Menschen.

Lesenswert und gut geschrieben, erweitert es den Horizont des Lesers und lässt ihn verstehen, wie wir im Alter denken und erinnern. Ein spannendes Thema, hervorragend recherchiert und mit wundervoller Leichtigkeit dargeboten. An diesen Autor werden wir uns noch lange erinnern.

Autor: Douwe Draaisma
Titel: „Die Heimwehfabrik – Wie das Gedächtnis im Alter funktioniert“
Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
Verlag: Galiani Berlin bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3869710055
ISBN-13: 978-3869710051

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