Gespräch mit Peter Stamm auf der Leipziger Buchmesse am 18.03.11

Peter Stamm ist ein sehr entspannter Mensch. Trotz des großen Menschenandrangs und der teilweise chaotischen Zustände auf der Leipziger Buchmesse 2011 ist er pünktlich zu unserem Termin am Stand der Fischer-Verlage, lächelt freundlich und gibt mir die Hand. Obwohl er auch an diesem Tag bestimmt schon viele Interviews und Lesungen hatte, wirkt er auch um 16 Uhr immer noch aufgeräumt und gesprächsbereit. In einem hellbraunen Cordsakko mit blauen Oberhemd und sandfarbener Hose steht er vor mir und seine strahlenden Augen schauen mich freundlich an. Er stellt seine lederne Schultertasche ab und setzt sich zu unserem halbstündigen Interview an den reservierten Tisch.

Schnell kommen wir auf seinen aktuellen Erzählband „Seerücken“ zu sprechen. Der war für den Leipziger Buchpreis nominiert, den jedoch am selben Tag ein jüngerer Kollege, Clemens J. Setz, für sein Buch „In den Zeiten des Mahlstädter Kindes“ gewonnen hat. Das passiere ihm immer wieder, sagt Peter Stamm, dass er zwar nominiert würde, aber dann den Preis nicht gewönne. „Vielleicht sind meine Bücher zu schwer vermittelbar“, vermutet er. Andere erzählten eben spektakulärere Geschichten als er.

In der Tat sind die Figuren in Peter Stamms Texten oft ganz normale Menschen in ganz gewöhnlichen Lebensumständen. Erst im Fortgang der Handlung merkt man, dass diese Figuren eine Vergangenheit mit sich herum tragen, die sie in den konkreten Situationen der Geschichte zu ganz bestimmten Handlungen zwingen. Peter Stamms Geschichten sind vor allem psychologische Geschichten. Sein großes Vorbild beim Schreiben war schon immer der Schwede Henrik Ibsen: „Ich habe Ibsen schon mit 16 gelesen. Er beschreibt die Ausweglosigkeit seiner Figuren, das, was er das Konzept der Lebenslüge nannte, aber er löste diese Ausweglosigkeit am Ende nicht auf.

Das ist bei Peter Stamms Erzählungen anders. Hier bleibt das Ende zumindest offen, das Scheitern der Personen ist nicht endgültig. Abschlüsse à la Hollywood interessieren Peter Stamm nicht. Solche Geschichten liest man, und am nächsten Tag hat man sie schon wieder vergessen. Das geht uns bei den amerikanischen Filmen genau so. Doch zum Beispiel an die alten Filme von Michelangelo Antonioni könne er sich noch heute gut erinnern, sagt Peter Stamm, obwohl er sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Solche Geschichten möchte er schreiben, deren Ende offen bleibt und dem Leser die Beantwortung der Frage nach der Auflösung selbst überlässt.

Solche Erzählungen finden sich auch in „Seerücken“. Zehn sind es an der Zahl, sie sind nicht aufeinander aufbauen, sondern nur durch die regionale Disposition miteinander verbunden. Die dem See abgewandte Hanglage wird als Seerücken bezeichnet, wer weiß das schon, wenn er nicht in eben solch einer Landschaft lebt. Im schweizerischen Thurgau trägt die vom Bodensee abgewandte Seite diesen Namen.

Peter Stamm hat viel von der Welt gesehen. Aufgewachsen in den engen Verhältnissen des  ländlichen Thurgaus der Siebziger Jahre ging Stamm für eine Zeit nach Paris, nur um danach zunächst wieder zu den Eltern zurück zu kehren. Damals begann jedoch fast jeder seiner Sätze mit „In Paris…“ Aus den allzu engen Verhältnissen zog es ihn immer wieder fort, zu kürzeren und längeren Aufenthalten in London, New York und Ende der Neunziger Jahre Berlin.

Er mag die großen Städte, die vielen Menschen mit ihren vielen Geschichten, doch der Lärm und die Ablenkungen der großen Städte hielten ihn vom Schreiben ab. Aber er konnte hier Material für seine Erzählungen sammeln. Seit einigen Jahren lebt er mit seiner Familie in Winterthur. Die Stadt habe die richtige Größe, um ihn nicht zu sehr vom Schreiben abzulenken, sei aber groß genug, um nicht die dörfliche Enge des Landlebens aufkommen zu lassen. – „Ich brauche auch die Nähe zur Natur, gehe oft  für Stunden in den nahe gelegenen Wald.“ Dort abseits der Wege zu gehen, führt den Autor in eine völlig andere Welt; die latente Gefahr des Unbekannten schärft die Sinne und steigert die eigene Aufmerksamkeit: „Im Wald denkt man nicht mehr, man ist einfach nur da und lauscht.

Peter Stamm studierte einige Zeit Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und schärfte sein schriftstellerisches Talent vor allem bei der Textproduktion für ein Satiremagazin, dem „Nebelspalter“. „Hier konnte ich mich austoben“, schwärmt er. Alle möglichen und unmöglichen Schreibstile wurden imitiert und persifliert. Noch heute sind zwei (natürlich nicht ernst gemeinte, sondern satirische) Groschenromane von ihm erhältlich: „Erna, die schöne Krankenschwester“ und „Herbert – Sie liebten sich nur einen Sommer“.

Peter Stamms literarische Produktionen haben eine große Bandbreite, er schrieb Hörspiele, Drehbücher, Satiren, journalistische Texte und für die Werbung. Seit langem ist er dort angekommen, wo er immer hinwollte: er schreibt Prosa, Romane und Erzählungen. Mit seinem ersten Roman „Agnes“ erging  es ihm ähnlich wie seinerzeit Jurek Becker mit seinem „Jakob, der Lügner“: Das Buch lag als Drehbuch vor, wurde jedoch nicht angenommen. Weil die Geschichte zu schön war, schrieb er sie um und hatte seinen ersten Roman verfasst.

Im Oeuvre von Peter Stamm erscheinen nun regelmäßig im Wechsel ein Roman und ein Erzählband. Gern würde er auch wieder einmal ein Hörspiel schreiben, sagt er fast entschuldigend, aber ihm fehle die passende Geschichte.

„Warum brauchen wir überhaupt Geschichten“, frage ich provokativ. Warum schreiben Sie und was ist die Aufgabe von Literatur? Peter Stamm zögert nur einen kurzen Augenblick. Die Menschen brauchen Geschichten, Geschichten wurden immer erzählt. Vermutlich hat das Erzählen einen sakralen Ursprung.

Peter Stamm lächelt; er erzähle seine Geschichten, um den Menschen einen Sinn für ihr Leben und eine Interpretationshilfe zu geben.

Das ist ein großes Ziel. Peter Stamm hat jedoch in vielen Romanen und Erzählungen bewiesen, dass er dieser Aufgabe immer besser gerecht wird.

Seerücken“, der aktuelle Erzählband, der gerade jetzt im Frühjahr 2011 erschienen ist, zeigt deutlich, wie tief Peter Stamm sich in die Psyche seiner Figuren hineinversetzen kann und mit ihnen lebt und leidet.

Ein anderer Schweizer Schriftsteller, Max Frisch, dessen 100. Geburtstag und 20. Todestag wir 2011 gleichzeitig bedenken, hat es in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“, so ausgedrückt: „Jedermann erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Genau so geht es den Figuren in Peter Stamms Erzählungen; genau so geht es uns selbst.

Ich mag meine Figuren, ich muss sie mögen, um über sie schreiben zu können.“ Er sieht keinen Sinn darin, besonders absurde Geschichten zu konstruieren. Auch Menschen in Extremsituationen, zum Beispiel im Krieg, könne er nicht beschreiben, weil er diese Situationen nicht kenne. Ihm geht es vielmehr zunächst um die möglichst genaue Abbildung der Wirklichkeit, aber das allein wäre zu wenig. Die Leser sollen sich selbst in den Geschichten und vor allem in den Situationen der Figuren wiederfinden können. Nur so könnten die Leser bei der Lektüre nicht nur berieselt und unterhalten werden, sondern auch etwas lernen; nur so können die Leser sich selbst besser verstehen und in ihrem oft zerstückelten und verworrenen Leben einen Sinn erkennen.

Unser Leben strahlt in der Regel nicht gerade eine lupenreine, kristalline Klarheit aus, das stimmt. Täglich sind wir unzähligen medialen Reizen ausgesetzt, die Informationen, die wir erhalten, sind nicht mehr eindeutig interpretierbar, unsere Beziehungen sind nicht mehr verpflichtend, der Arbeitsplatz unsicher, der Lebensweg insgesamt ungewiss und zu einem Großteil unplanbar geworden. Während die Geschwindigkeit immer weiter zunimmt, sind wir gefordert, Entscheidungen zu treffen, von denen wir weder wissen, ob sie richtig noch ob sie uns zuträglich sind, ganz abgesehen von der Frage nach der Verhältnismäßigkeit und Verträglichkeit für den oder die anderen.

Wir leben in einer gehetzten Zeit, das betrifft auch den Literaturbetrieb und die Lektüre von Büchern. Könnte in solch einem schnellen Leben nicht sogar die Erzählung gegenüber dem Roman im Vorteil sein? Würden Erzählungen von vielleicht zehn, zwanzig Seiten nicht viel besser zu dem modernen Leser passen als ein Roman von 300 bis 500 Seiten? – Peter Stamm sieht für beide literarischen Formen eine Daseinsberechtigung: „Es ist auch mal ganz schön, sich zwei Wochen in einem Roman aufzuhalten.“ Und wenn auch der Umfang einer Erzählung vielleicht kleiner ist, so erfordert diese Kurzform vom Leser mindestens genau so viel Aufmerksamkeit als ein Roman. Mehr noch sei hier der Leser gefordert, denn die Konzentration des Textes macht jeden Absatz, ja jedes Wort bedeutend.

Auf der Leipziger Buchmesse 2011 wird allerorts der unmittelbar bevorstehende Durchbruch des Ebooks verkündet. Ob die machtvollen Präsentationen der Hersteller und Content-Anbieter auf dieser Messe einen wirklichen Trend abbilden oder ihn erst generieren (wollen), sei dahin gestellt;  aber wenn die Verkaufszahlen der Ebook-Reader auch in Deutschland demnächst in die Höhe schnellten, wäre dann nicht der kurze Text, die Erzählung, die Kurzgeschichte oder Novelle die geeignetere Form für diese digitalen Lesegeräte als der Roman?

Peter Stamm stimmt dem zu. Im Grunde sei es doch egal, in welcher Form ein Text gelesen wird, solange er überhaupt gelesen werde. Er sieht durch den prognostizierten Erfolg des Ebooks weniger eine Gefahr für die Verlage, auch nicht für die kleinen, sondern vor allem für den traditionellen Buchhandel. Die großen Ketten und das Internet werden mit ihrer wirtschaftlichen Kraft vor allem den kleinen Buchhandlungen Probleme bereiten. Doch technologische Entwicklungen habe es schon immer gegeben. Auch die Schreiberlinge wurden irgendwann durch die aufkommenden Druckerpressen verdrängt, und vielleicht geht es auch den klassischen Buchhandlungen eines Tages so, das sie verschwinden.

Aber für das Buch selbst sieht er keine Gefahr. Durch die Einführung der Taschenbücher sind seinerzeit die Hardcover nicht vom Markt verschwunden, und auch das Hörbuch hat dem gedruckten Buch nicht wirklich geschadet. Im Gegenteil hat es neue Käufer- Leser- und Hörerschichten erschlossen. Peter Stamm sei zuversichtlich, dass das Buch auf Dauer nicht durch das Ebook verdrängt wird: „Das wird vielleicht bei einigen Fachpublikationen so sein, im wissenschaftlichen oder auch im Sachbuch-Bereich; aber die Leute werden auch weiterhin belletristische Bücher kaufen, die sie in der Hand halten, durchblättern und ins Regal stellen können.

Wir können unseren Lebensweg in Listen aufführen, die einzelnen Stationen unserer beruflichen Karriere und die Eckdaten wichtiger familiärer Zäsuren benennen; doch wenn wir etwas wirklich Interessantes und Charakteristisches über uns und unser Leben aussagen möchten, so werden wir Geschichten erzählen.

Geschichten werden immer erzählt, und deshalb macht sich Peter Stamm auch keine Sorgen um die Zukunft der Literatur. Geschichten werden immer erzählt, aber natürlich gibt es auch viele Belanglosigkeiten, die dem Publikum vorgesetzt werden (und die es zuweilen mit einer geradezu befremdlich unterwürfigen Selbstverständlichkeit konsumiert). Aber bekanntermaßen sagen die Bestsellerlisten eben nur etwas über Verkaufszahlen und nichts über die Qualität der gelisteten Titel.

Peter Stamms Geschichten haben jedoch einen anderen Klang als die vielen schnellen Erfolgstitel auf den Belletristik-Charts. Er ist ein Meister der leisen Töne und der unspektakulären Handlungen. In ihrer Schlichtheit erinnern Stamms Texte oft an Siegfried Lenz und natürlich an Ibsen, dem großen literarischen Vorbild des Autors.

Kommen wir auf die Arbeit eines Schriftstellers zu sprechen. Wo findet er seine Geschichten und wie geht er ans Schreiben? „Der Auslöser für meine Geschichten sind oft Menschen, die ich auf der Straße sehe und beobachte. Ich schreibe über normale Menschen, denn nur im Normalen kann ich die Menschen am besten verstehen und erkennen.

Und wie beginnen Sie mit dem eigentlichen Schreiben, erstellen Sie eine Gliederung oder beginnen Sie einfach am Anfang? „Meistens gibt es einen Satz oder eine Szene, von dort lasse ich mich in die Geschichte hineinziehen. Die Geschichten entwickeln sich von selbst.“ Ganz ohne Gerüst und den doppelten Boden einer Gliederung schreibt Peter Stamm seine Geschichten, das gilt für Erzählungen wie auch für seine Romane. Hierbei ist das erlernte Schreibhandwerk wie  ein unsichtbares Leitsystem, das den Verlauf der Geschichte immer wieder in bestimmte Bahnen lenkt. „Irgendwann weiß man einfach intuitiv, wie man eine Geschichte erzählen muss.

Dabei tauchen auch manchmal Figuren auf, von denen Peter Stamm zu Beginn der Geschichte nichts wusste: „Ich weiß in dem Moment des Auftauchens noch nicht, warum dies geschieht; aber vielleicht 100 Seiten später wird mir klar, wie wichtig genau dieser Charakter für den Ablauf der ganzen Geschichte ist.

Bei Peter Stamm ist nicht nur während des Schreibprozesses alles offen; auch am Ende seiner Geschichte wird dem Leser nicht ein fertiger Schluss samt Bedienungsanleitung vorgesetzt, sondern ein Nach- und Weiter-Denken von ihm gewünscht. „Ohne Happy-End bleiben die Geschichten länger im Kopf“, sagt er noch einmal. Und es ist wahr. Genau so geht es mir nach dem Ende dieses halbstündigen Gesprächs: kein Abschluss, keine Auflösung aller Geheimnisse des Autors. Ein Punkt ist gesetzt, wo ein Gedankenstrich angebracht wäre. – Viele Fragen bleiben offen. Warten auf ein weiteres Gespräch.