Darina Al-Joundi: „Der Tag, an dem Nina Simone aufhörte zu singen“

Darina Al-Joundi: "Der Tag, an dem Nina Simone aufhörte zu singen"Beirut im Bürgerkrieg. Darina und ihre Schwestern sind die Töchter eines syrischen Flüchtlings und einer libanesischen Mutter. Die Familie gehört der Schicht der linken Intellektuellen an, und Darina und ihre Schwestern werden vom Vater als „freie Mädchen“ erzogen.

Es ist verboten zu verbieten“, ist einer seiner Grundsätze. Seine Töchter sollen sich nicht vom Wertesystem der Religionen einschränken lassen. Eigentlich ist Darina Muslima, aber sie geht in eine katholische Schule und nimmt fleißig an den Messen teil. Die Religion ist für sie ohne Bedeutung.

Die Mutter arbeitet bei einem Radiosender als Nachrichtensprecherin, der Vater schreibt für eine linke Tageszeitung und muss ständig auf der Hut sein vor dem syrischen Geheimdienst, der ihn verfolgt.

Früh macht er Darina mit den wichtigen Dingen des Lebens vertraut. An ihrem 7. Geburtstag legt er „Feeling good“ von Nina Simone auf, und Vater und Tochter trinken ein Glas Bordeaux, Darinas erste Bekanntschaft mit dem Alkohol.

Im gleichen Jahr bricht der Bürgerkrieg im Libanon los. Beirut wird in den folgenden Jahren nicht nur von israelischen Bomben verwüstet, sondern ist Tummelplatz der verschiedenen Befreiungsgruppen, Freischärlern und Terroristen.

Darina wächst in diesem chaotischen Umfeld auf und wird schnell erwachsen. Der Krieg ist allgegenwärtig, der Tod verliert schnell seinen Stachel, so gewöhnlich ist er für die Beiruter. An der nähten Straßensperre kann man willkürlich und ohne Grund geschlagen, vergewaltig oder gleich erschossen werden.

Schnell werden Krieg und Terror zu einem Teil des eigenen Lebens. Wenn ein Geschoss durch die Wohnung schießt, die Druckwelle einer Explosion wieder einmal die Fenster aus den Rahmen springen lässt, so macht man nicht mehr viel Aufhebens davon. Der Weg in den Schutzkeller ist schnell zur Routine geworden.

Eines Tages wird auf Darinas Vater auf offener Straße ein Anschlag verübt. Die Kugel prallt vom Bügel seiner Brille ab und gräbt sich in sein Hirn. Er überlebt mit viel Glück, aber nur langsam kann er sich in Frankreich von den Verletzungen erholen. Bald kehrt er nach Beirut zurück und nimmt seine Arbeit wieder auf.

Als die syrischen Truppen kommen, geht der Vater nach Zypern. Darina und ihre Schwestern gehen mit, kommen wieder zurück, gehen später getrennte Wege. Darina bleibt in Beirut und wird zur Frau. Mit 14 beginnt sie beim Roten Kreuz zu helfen, um wenigstens irgendetwas tun zu können. Als sie bei ihrem ersten Einsatz im Kino Concorde, das zu einer Notunterkunft für etwa 400 Familien geworden war, die verletzten Kinder in den Kinostühlen sterben sah, weint sie.

Bald beginnt Darina ihre ersten sexuellen Erfahrungen zu machen und ihre Angst, ihre Wut und Trauer mit Alkohol und Drogen zu bekämpfen. „Meine Lebensphilosophie war einfach.“ schreibt sie: „Ich war überzeugt, ich würde von einer Sekunde auf die andere sterben, und ließ die Kerze von beiden Enden brennen, ich war auf alles versessen, auf Sex, Drogen, Alkohol, ich hatte immer eine Falsche Whisky dabei, eine Packung Zigaretten und eine Kerze, die ich auf dem Bürgersteig Ecke Rue Makhoul anzündete, wo ich manchmal stundenlang ganz alleine saß.

Maher, ein schwuler Freund, weihte sie in alle Geheimnisse der Sexualität ein. Weil sie von ihrer Mutter als Hure beschimpft wird, obwohl sie noch Jungfrau ist, entjungfert sich Darina selbst. Kurz danach wird sie von einem Mann vergewaltigt und wieder geschlagen, weil sie keine Jungfrau mehr war. Fortan nahm sie sexuelle Rache, hatte mit jedem Beliebigen Sex, empfand aber nichts dabei.

Ihr Vater wurde vom syrischen Geheimdienst verhört. Man sperrte ihn in eine Glaszelle, in der Lautsprecher installiert waren, die Tag und Nacht die Schreie der gefolterten Gefangenen aus den Kellern übertrugen. Gebrochen wurde er nach vierzehn Tagen freigelassen. Kurz darauf starb sein Bruder Samy. Als er zur Beerdigung nach Damaskus reisen wollte, verweigerte man ihm die Einreise, und er erlitt einen Herzinfarkt und musste am offenen Herzen operiert werden. Er überlebte die Operation nicht.

Während Darina bei ihrem Vater die Totenwache hält, ist vor der Tür der Teufel los: Schwarzgekleidete Klageweiber schreien durcheinander, aus einem alten Kassettenrekorder klingen Korangesänge. Darinas Vater hatte verfügt, dass auf seiner Beerdigung auf keinen Fall aus dem Koran zitiert würde. Darina tobt, stürmt in den vollbesetzten Raum, schnappt sich den Kassettenrekorder und legt anstelle der Korangesänge Nina Simone ein. Das hatte sich der Vater gewünscht, am liebsten wäre ihm eine fröhliche Beerdigung mit einer Jazz-Kapelle gewesen.

Kurz darauf wird sie im Babylone, einem Beiruter Nachtclub, von mehreren Männern vor aller Augen an den Haaren durch den Laden geschleift, geschlagen und getreten. Es ist der Mann, dem sie bei der Beerdigung die Koran-Kassette aus dem Rekorder genommen hat. Der Stacheldraht des Zauns zerriss ihren Rücken, die Faustschläge und Fußtritte entstellten ihr Gesicht und brachen ihr mehrere Rippen. Keiner ihrer Freunde griff ein. Alle waren durch den Krieg abgestumpft und teilnahmslos.

Im Krankenhaus bricht alles aus Darina heraus. Sie schreit, tobt, beschimpft alle – und wird ruhig gestellt. Sie kommt ins christliche Couvent de la Croix, eine Irrenanstalt, in die alle Frauen abgeschoben werden, die man nicht mehr braucht: überflüssige Ehefrauen, alte Frauen, deren Erbe man verhökern wollte und Frauen wie sie, die aufmüpfig geworden waren.

Darina spielt das Spiel mit, und es gelingt ihr, die Freilassung zu erwirken. Das kostete siebentausend Dollar, die sie sich von einem Freund leihen musste. Am nächsten Tag flog sie nach Paris und begann ein neues Leben.

Darina Al-Joundi erzählt ihre Geschichte. Sie arbeitet als Theater-Regisseurin und Autorin, und das vorliegende Buch basiert auf vielen Gesprächen, die der Journalist Mohamed Kacimi mit Darina Al-Joundi während der Inszenierungen ihres Theaterstücks führte, das 2007 mit großem Erfolg in Frankreich aufgeführt wurde.

Die Autorin schreibt Klartext. Ihre Sprache ist direkt und schonungslos offen. Der Text ist kurz und fesselt doch gerade durch die ungeheure Dichte der Erzählung. Gleichzeitig offenbaren sich in dieser permanent gebrochenen Lebensgeschichte zwischen Tradition und Moderne, zwischen Bürgerkrieg und den privaten Erfahrungen einer heranwachsenden Frau, die Schönheit des Lebens und der unbändige Wille einer jungen Frau, das eigene Leben frei von Unterdrückung zu leben und zu feiern.

 

Autor: Darina Al-Joundi
Titel: „Der Tag, an dem Nina Simone aufhörte zu singen“
Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann Verlag
ISBN: 3570011054
EAN: 978-3570011058

 

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