Christian Welzbacher: „Durchs wilde Rekonstruktistan – Über gebaute Geschichtsbilder“

Es ist ein schmales Buch von gerade einmal 96 Seiten, das jüngst im Berliner Parthas-Verlag erschienen ist. Aber es ist ein wichtiges, wegweisendes Buch. Der Autor, der 1970 in Offenbach geborene Christian Welzbacher, ist Kunsthistoriker und hat bereits einige interessante Bücher, vor allem über architektonische Themen, geschrieben.

Die grundlegende Frage, die Welzbacher in den Raum stellt, ist, inwieweit wir mit architektonischen und rekonstruktiven Mitteln versuchen, unser Geschichtsbild im öffentlichen Raum abzubilden. Denken wir an den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche oder an die langjährige Diskussion über den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, so wird klar, dass es sich hier um völlig andere Dinge geht, als um eine restaurative Erhaltung alter Baudenkmäler.

In beiden Fällen soll die Architektur dem aktuellen Geschichtsbewusstsein der Deutschen Rechnung tragen und Stein auf Stein wieder erstehen lassen, was das historisch getrübte Auge gern sehen möchte. Im Fall des Berliner Stadtschlosses – der neue Name „Humboldtforum“ lässt es schon erahnen – handelt es sich sogar um einen reinen Fassadenschwindel: hinter der historischen Fassade des alten Stadtschlosses soll innen eine vollkommen neue Nutzung an die Stelle des Alten treten. Einen Kaiser haben wir ja nicht mehr, also kann das Volk diesen neu umbauten Koloss nutzen; vor allem Museen mit ihren Sammlungen werden Einzug halten und der leeren Mitte des Berliner Kernlandes einen neuen kulturellen Inhalt verleihen.

Was spricht jedoch gegen solch eine Rückflucht in historisches Bauen? Könnte man nicht froh sein, dass unsere Städte durch Wiedererrichtung alter Baudenkmäler und anderer Gedenkstätten neben all dem Grau und Glas der modernen Architektur endlich wieder etwas Unverwechselbares, nicht Austauschbares erhalten? Sind durch diese rekonstruierten Vergangenheitsräume unsere Städte nicht endlich wieder bewohnbarer und identitätsstiftender geworden?

Diese Haltung ist weit verbreitet. Dabei haben die historischen Räume längst nicht mehr dieselbe Funktion wie zuvor. Wir können eben nicht die Uhr zurück drehen und uns ins 17. oder 19. Jahrhundert zurück katapultieren. Wir würden es, nebenbei gesagt, auch gar nicht wollen.

Jedoch in unserer Zeit sind jene Orte der Geschichte längst instrumentalisiert worden und erfüllen ihre Aufgabe als Gedenkstätten und als Räume, in denen Geschichte „fassbar“ wird – eine Aufgabe nicht nur für die Bildung von Schulklassen, sondern auch für Erwachsene.

Wer an einem Ort mit Altstadt groß geworden ist, kennt die engen, verwinkelten Gässchen, in denen windschiefe Häuschen mit dünnen Scheiben, Ofenheizung und Außenklo standen. So pittoresk diese Viertel auch aussahen, am Ende war jeder froh über die behutsame Sanierung dieser veralteten Lebensräume. Wer heute durch Quedlinburg, Regensburg oder Mainz spaziert, kann diesen gesäuberten Duft der alten Zeit mit allen Sinnen genießen. Das ist aber etwas völlig anderes als der Neubau eines im Krieg zerbombten, danach geschleiften und schließlich abgerissenen Sakral- oder Herrschaftsbaus. Der Beschluss zu ihrer Wiedererrichtung ist mehr als eine kunsthistorische Frage, er ist ein politisches Signal.

Bleiben wir bei einem Bild. Der von der Gegenwart gelangweilte oder geängstigte Mensch hat zwei Möglichkeiten zur Flucht: nach vorne in die Zukunft, in die Hoffnung auf ein besseres Morgen, oder in die Vergangenheit, verbunden mit der Sehnsucht nach der guten alten Zeit, die niemals gut war, wie wir längst wissen.

Die fleißige Geschichtsbautätigkeit des wilden Rekonstruktistan unterstützt die Fluchttendenzen des rückwärts gewandten Zeitflüchtlings.

Einen weiteren Trend beobachten Welzbacher im sprunghaften Anstieg des Anteils an Geschichtssendungen im Dokumentarfilmbereich des Fernsehens. Die so genannten Doku-Soaps haben sich auf das breite und dankbares Genre der Geschichtsdokumentationen ausgebreitet. Allen voran ist Guido Knopp der Anchorman dieser „History-Faction“ (in Anlehnung an Fiction). Die Vergangenheit wird reanimiert und mit Dolby Surround ins Hirn des Zuschauers gepresst, so „live“ war uns die Geschichte noch nie dargeboten worden wie in den aktuellen zeitdokumentarischen Sendungen.

Bei aller Begeisterung für die technische Perfektion dieser Filme stellt sich dennoch die Frage nach den Ursachen für die breite Akzeptanz von Geschichtsthemen. Ist es wirklich nur eine Fluchtbewegung aus einer einengenden und bedrohlichen Gegenwart, die wir hier erleben? Oder soll uns die geschichtliche Aufarbeitung von Karl dem großen bis zum Führerbunker bei der Ausstaffierung unserer immer noch dünn bekleideten nationalen Identität helfen?

Die Frage lässt sich wohl nur individuell beantwortet werden und zieht auch nach einer Beantwortung nur sogleich weitere und neue Fragen nach sich.

Interessant ist jedoch allein die Wahrnehmung dieses Phänomens sowie seine Betrachtung im Zusammenhang mit den rekonstruierten historischen Baudenkmälern unserer Zeit.

Christian Welzbachers Buch gewährt dem Leser einen neuen Blick auf unserer kulturellen Traditionen und auf unser aktuelles Geschichtsbild. Es wird interessant sein, wie folgende Generationen auf unsere Zeit schauen und was sie über unseren Umgang mit der eigenen Geschichte denken werden.

Autor: Christian Welzbacher
Titel: „Durchs wilde Rekonstruktistan – Über gebaute Geschichtsbilder“
Gebundene Ausgabe: 120 Seiten
Verlag: Parthas
ISBN-10: 3869640316
ISBN-13: 978-3869640310

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