Samuel Benchetrit: „Rimbaud und die Dinge des Herzens“

Anfangs dachte ich, Rimbaud wäre ein Wohnturm. Weil man Rimbaud-Turm sagt. Dann aber erklärte mir mein Kumpel Yéyé, dass Rimbaud ein Dichter gewesen ist. Warum man meinem Wohnturm den Namen eines Dichters gegeben hat, ist mir schleierhaft. Yéyé meinte, weil der Mann bekannt war und vor langer Zeit  gestorben ist. Ich habe natürlich gleich gefragt, ob er gestorben ist, nachdem er unseren Wohnturm gesehen hat. Yéyé meinte, nein, der wäre schon viel früher gestorben. Umso besser für ihn, habe ich erwidert, weil der Turm grottenhässlich ist und Rimbaud bestimmt genervt wäre, wenn er wüsste, dass sein Name für so was genommen wird.

Charly Traoré ist zehn und lebt in der Banlieue, in einer dieser grauen Pariser Vorstädte. Seine Eltern stammen aus Mali. Sein Vater verließ die Familie kurz nach seiner Geburt. Sein großer Bruder Henry ist drogensüchtig, und die Mutter hält die kleine Familie zusammen. Bis zu jenem Morgen, an dem die Geschichte beginnt, die uns Charly in „Rimbaud und die Dinge des Herzens“ erzählt. Drei Polizisten kommen und holen seine Mutter ab. Warum sie abgeholt wird und was Charly noch alles an jenem Tag heraus findet, erzählt er in dem neuen Roman von Samuel Benchetrit, der jetzt im Aufbau-Verlag in der Übersetzung von Olaf Matthias Roth erschienen ist.

„Rimbaud und die Dinge des Herzens“ ist eine heiter und fröhlich erzählte Geschichte mit einem ernsten und traurigen Hintergrund. Ort der Erzählung ist die Banlieue von Paris, in der Drogen und Gewalt genauso zur Tagesordnung gehören wie Alkohol und Arbeitslosigkeit. Doch das kann den kleinen Charly, der eigentlich Charles heißt, nicht runterkriegen. Der kleine Kerl ist so voller positiver und lebensbejahender Energie, dass ihn nichts so leicht umhaut. Außer Mélanie Renoir, das schönste Mädchen der Welt.

Samuel Benchetrit erzählt die Geschichte von Charly mit einem unglaublichen Drive. Das tempo ist atemberaubend und die Sprache frisch und unverbraucht. Manche Kritiker fühlten sich bereits an J.D. Salinger’s „Der Fänger im Roggen“ erinnert oder meinen, in Samuel Benchetrit gar einen neuen Charles Dickens gefunden zu haben. Letzteres scheint vielleicht etwas übertrieben, aber zweifellos ist „Rimbaud und die Dinge des Herzens“ das Frischeste, was seit langem an französischer Literatur auf dem deutschen Buchmarkt erschienen ist.

Der Schauspieler, Filmemacher und Schriftsteller Samuel Benchetrit ist Jahrgang 1973, in Champigny-sur-Marne im Großraum Paris geboren und selbst in der Banlieue aufgewachsen. In seiner auf fünf Teile angelegten Autobiographie „Chroniques de l’asphalte“ schreibt er über seine Kindheit in der Banlieue. Diese Chronik diente jedoch nicht als Vorlage für „Rimbaud und die Dinge des Herzens“. Die „Asphaltchroniken“ spielen in den 1980er Jahren, und die Geschichte von Charly und seiner Familie aus Mali ist brandaktuell.

Während der Buchpräsentation des Aufbau-Verlags im Grünen Salon der Berliner Volksbühne Ende Januar 2011 erzählt Benchetrit, wie er auf die Idee zu diesem Buch kam. Es handele sich um eine wahre Geschichte, die einem Freund von ihm passiert sei. Leider ist die Abschiebung von Menschen „sans papiers“, also ohne gültige französische Papiere, kein Einzelfall, sondern eine seit einiger Zeit verstärkt praktizierte Maßnahme der Regierung Sarkozy, um durch solch populistische Aktionen von den eigenen Problemen abzulenken.

Es ist ein Teufelskreis. Die brennenden Barrikaden in den französischen Vorstädten und die Proteste der Armen und Ausgegrenzten bieten den Politikern den besten Vorwand, um ihre Sanktionen gegen die illegalen Einwanderer und Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung weiter zu verstärken. Es folgen weitere Abschiebewellen, weitere Proteste…

Auf die Frage, wie er „Rimbaud“ geschrieben habe, antwortete Benchetrit in Berlin: „Zunächst habe ich eine vage Idee davon, was ich erzählen will. Dann verwende ich die Technik des Automatischen Schreibens (Écriture automatique).“ Diese assoziative Schreibtechnik wurde Anfang der 1920er Jahre von den Surrealisten entwickelt, um durch den freien Fluss der Assoziationen die Literatur zu revolutionieren. „Nicht die Situation führt zum Dialog, sondern der Dialog führt zur Situation.“ führt Benchetrit seinen Schreibansatz dann weiter aus.

Genauso spannend liest sich „Rimbaud und die Dinge des Herzens“. Der Roman steckt voller Leben, genialer Einfälle und erfrischender Sichtweisen auf die schönen und auch auf die hässlichen Seiten des Lebens. Doch Vorsicht: Dieses Buch werden Sie in die Hand nehmen und nicht wieder weglegen können.

252 spannende Seiten über einen Tag im Leben von Charly Traoré auf der Suche nach der Wahrheit, die Liebe und das Leben.

Autor: Samuel Benchetrit
Titel:“ Rimbaud und die Dinge des Herzens“
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag
ISBN-10: 3351033125
ISBN-13: 978-3351033125

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