Der kleine Senek war 4, als die ersten deutschen Bomben auf Polen niedergingen. 1935 geboren in dem kleinen Städtchen Zychlin, etwa 130 Kilometer von Warschau entfernt. Sein Vater war Tabakhändler, jedoch ein Mann mit vielen Talenten. Weil Seneks Mutter aus Breslau stammte, sprach auch der Vater ein wenig Deutsch, was ihm und seinem Sohn schon bald das Leben retten sollte.
Am 20. Januar 2011 lud das Literaturforum im Bertolt Brecht Haus in Berlin-Mitte zu einem Abend mit Senek Rosenblum. Moderiert wurde die Veranstaltung vom Historiker und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Dr. Wolfgang Benz, erzählte Senek Rosenblum den interessierten Zuhörern seine Geschichte vom „Jungen im Schrank“.
Vor uns sitzt ein kleiner, 75-jähriger Mann von drahtiger Statur und einem Kopf, der ein wenig an Louis de Funès erinnert. Er erzählt lebhaft, oft mit einem Schmunzeln und in einer bildreichen Sprache. Manchmal jedoch scheinen die Erinnerungen zu plastisch zu werden und ihn gleichsam in diese schreckliche Zeit zurück zu versetzen. Dann wird er still, ringt um Worte, um das Unaussprechliche zu beschreiben.
Nach der Niederschlagung des polnischen Widerstands war Polen besetztes Gebiet. Zychlin gehörte zum so genannten „Reichsgau Wartheland“, und die deutschen Besatzer begannen systematisch mit der Ausgrenzung und Sammlung der jüdischen Bevölkerung in kleinen Ghettos. So lebte auch Senek Rosenblums Familie von 1940 bis 1942 in das kleine Zychliner Ghetto.
Weil sein Vater recht passabel deutsch sprach, wurde er schon bald zu einem „Mittler“ zwischen den Juden und den deutschen Besatzern. Auf diese Weise schaffte er es sogar, eine Art Freundschaft zu einem der oberen SS-Männer aufzubauen. Als dieser ihm Ende 1942 unmissverständlich zu erkennen gab, dass die Ghettoisierung der Juden allein dem Ziel der physischen Liquidation diente, mit der in Kürze begonnen werden würde, zögerte der vater keinen Moment und nutzte den Winter 1942 zur Flucht der Familie.
Ziel war das Warschauer Ghetto. Dort lebten bereits 500000 Juden, und es war so groß, dass sich niemand vorstellen konnte, dass man ernsthaft versuchen würde, all diese Menschen zu vernichten. Das Warschauer Ghetto schien also ein vergleichsweise sicherer Ort zu sein.
Die Flucht durch das winterliche Polen war dramatisch. Großmutter und Mutter waren krank, der Schnee war hoch, und die Flucht dauerte mehrere Wochen, obwohl die Strecke nur etwa 130 Kilometer betrug. Zwischen Zychlin und Warschau lag jedoch die Grenze vom Wartheland zum Generalgouvernement, die erst noch überwunden werden musste. Wer von den Deutschen als Jude außerhalb der Ghettos entdeckt wurde, wurde erschossen.
Die Angst entdeckt zu werden, war allgegenwärtig. Die Kälte und der Hunger zehrten an den schwachen Kräften. Mutter und Großmutter überlebten die Strapazen der Flucht nicht; sie starben vor Erschöpfung. Nur der Vater erreichte mit dem Sohn zunächst die kleine Stadt Sochaczew und kurz danach das Warschauer Ghetto.
Das Warschauer Ghetto bot zunächst Sicherheit, jedoch Hunger, Krankheit und Tod waren allgegenwärtig. Auch hier war Seneks Vater erfinderisch. Er begann schnell, an der Mauer an der Mauer des jüdischen Ghettos mit den Deutschen auf der anderen Seite Schwarzhandel zu treiben. Dies funktionierte nur durch Bestechung der Aufseher und Polizisten; es war ein Tanz auf dem Drahtseil, der in jedem Moment mit dem Tod enden konnte.
Nach etwa sieben Monaten wurden die Zustände im Warschauer Ghetto unerträglich, und der Vater bereitete die Flucht vor. Zunächst sollte der kleine Senek in Sicherheit gebracht werden.
Dort gab es eine schöne Frau, eine 42-jährige Polin. Sie wurde die Geliebte des Vaters. Der Vater von Senek war ein Charmeur; er hatte immer einen Schlag bei den Frauen, und so wurde die schöne Polin die Geliebte des Vaters. Sie hatte eine 21-jährige Tochter, Irka, eine streng gläubige Katholikin, die mit einem Trinker zusammen lebte.
Irka wird die Frau sein, bei der der kleine Senek vor den Deutschen versteckt wird. Sie wird fortan seine „Tante“ sein, und aus Senek Rosenblum wird Senek Rurzycki, ein kleiner polnischer Junge aus Piontki, der leider seine Eltern verloren hat und nun bei seiner Tante in Warschau lebt.
„Der Junge im Schrank“ ist der spannende und autobiographische Roman einer „Kindheit im Krieg“, wie der Untertitel lautet. Senek Rosenblum schreibt in der Ich-Form und erzählt die Geschichte der Verfolgung, Flucht und Rettung des kleinen jüdischen Jungen Senek mit solch einer plastischen und detailreichen Sprache, dass der Leser mit dem kleinen Senek zusammen diese schlimmsten Zeiten einer Kindheit durchlebt.
Doch neben all dem Schrecken, dem allgegenwärtigen Tod, den Soldaten und Opfern blitzen immer wieder kleine, fast glückliche Momente kindlicher Träumereien auf und lassen die Schrecken des Krieges für wenige Augenblicke vergessen.
Der Autor schreibt aus der Sicht eines kleinen Jungen, und so werden wir zu den kindlichen Augenzeugen der Kriegswirren und der permanenten Bedrohung. Nach der Lektüre dieses Buches werden wir den krieg mit anderen Augen sehen.
Es ist nur auf den ersten Blick eine ähnliche Geschichte wie die der Anne Frank in ihrem Amsterdamer Versteck. Doch die Episode des „Jungen im Schrank“ ist nur ein Teil der bewegten Kindheitsjahre des kleinen Senek Rosenblum. Der Roman erzählt noch viele andere autobiographische Geschichten dieses Jungen aus dem kleinen Städtchen Zychlin. Seine Odyssee sollte erst nach dem Ende des Krieges ihr Ende finden.
Zurück nach Warschau im Jahr 1943: In ihrer Wohnung eines kleinen Hauses an der Warschauer Peripherie wird der kleine Senek der „Junge im Schrank“. Elf Monate wird er immer wieder in einem winzigen Holzverschlag im hinteren Teil eines großen Kleiderschranks versteckt, leidet unter Platzangst und Atemnot und wird zeitweilig sogar das Laufen verlernen.
Der kleine Junge muss sich still verhalten. Niemand darf erfahren, dass in dem Mietshaus ein Kind lebt. Wer jüdische Menschen versteckt, dem blüht die Todesstrafe. Doch nach elf Monaten fliegt sein Versteck auf, und 1944 sind Senek und sein Vater erneut auf der Flucht.
Sein Vater gibt sich jetzt als ein aus deutscher Gefangenschaft geflohener polnischer Offizier aus. Vater und Sohn fliehen durch das ländliche Polen und kommen in einem Bauernhof unter. Seneks Beine sind immer noch gelähmt, doch der Vater schafft es, seinem Sohn wieder das Laufen beizubringen. Er ist dabei nicht zimperlich, und seine Therapie sehr unorthodox; aber sie hilft, und Senek kann bald wieder laufen.
Senek lernt reiten und wird zum Kundschafter für den Bauernhof. Das Land und die Wälder sind voller Partisanen. Doch die Front rückt immer näher. Im Spätsommer 1944 sind die Deutschen nur noch mit sich selbst beschäftigt. Alles flieht vor den vorrückenden sowjetischen Truppen. Doch kurz vor dem Winter bleibt die Front an der Weichsel stehen.
Während sein Vater noch auf deutsch besetztem Gebiet ist, befindet sich der kleine Senek schon in Freiheit. Doch der Winter 1944 ist hart. Vom Vater getrennt, muss sich Senek allein durchschlagen. Er hungert, friert und bettelt. Weil er merkt, dass sein Jiddisch ähnlich wie Deutsch klingt, versucht er es auch bei den deutschen Soldaten. Er kommt bei einer hinkenden Frau mit einer kleinen Tochter unter. Diese Frau gibt ihm Schutz, aber sie nutzt ihn auch aus. Er muss für sich und für die beiden Essen beschaffen, wird zum Meisterdieb, wie er es scherzhaft nennt.
Im Frühjahr 1945 rollt endlich die sowjetische Front weiter nach Westen, und der Vater findet seinen Sohn wieder. Beide machen sich auf den Weg nach Radom, einem kleinen Dorf auf halbem Wege zwischen Warschau und Berlin. Dort soll Seneks Onkel Felek den Krieg überlebt haben, aber es geht ihm nicht gut. Vater und Sohn gehen weiter nach Westen.
Hier endet das Buch „Der Junge im Schrank“, aber natürlich ist Senek Rosenblums Geschichte hier lange noch nicht zu Ende. An diesem kalten Januar-Abend im Berliner Literaturforum des Brecht-Hauses erzählt er noch, wie er mit seinem Vater in einem sowjetischen Militärzug in das frisch befreite Berlin kam. Wieder griff der Vater zu einem Trick und machte seinen Jungen zu einem schwer verwunderten Invaliden, der dringend zu einem Spezialisten nach Berlin gebracht werden müsste, um seinen Arm zu retten. Der Trick funktionierte, und die Bestechung der sowjetischen Miliz sicherte den beiden die Weiterfahrt nach Berlin.
In Berlin blieben Senek und sein Vater nur kurz. Das eigentliche Ziel im Westen war München, die größte Stadt in der amerikanisch besetzten Zone. Denn Senek und sein Vater wollten nach Amerika. Dort lebte der berühmte und reiche Onkel Charles in New York, dort lockte das paradiesische Land von Milch und Honig, von dem der Vater immer so schwärmerisch erzählte.
Seneks Vater sollte Amerika nie sehen. Nur Senek zog es mit 18 für einige Jahre dorthin. Er diente als Staatenloser in der US Army und versuchte, in den Staaten sein Glück zu finden. Aber weil der Vater krank wurde, ging er schon Mitte der 1960er Jahre wieder nach München zurück.
Es war eine schwierige Zeit, immer noch geprägt von einer Gesellschaft, die sich als Besiegte fühlte und ihre eigene nationalsozialistische Vergangenheit noch lange nicht verarbeitet hatte. Der Vater blieb für den Rest seines Lebens in München, wurde Fellhändler und starb 1996.
Senek Rosenblum lebt heute mit seiner Familie in München. „Der Junge im Schrank“ ist sein erstes Buch. Er schreibt jedoch bereits an einer Fortsetzung, eine Beschreibung seiner Zeit in den USA. Wir können gespannt sein auf dieses Buch, denn Senek Rosenblum ist ein begnadeter Erzähler, der viel erlebt hat und seinen Lesern viele spannende Geschichten erzählen kann. Denn nichts ist so faszinierend wie die Wirklichkeit.
Autor: Senek Rosenblum
Titel: „Der Junge im Schrank“
Taschenbuch: 432 Seiten
Verlag: btb Verlag
ISBN-10: 3442741750
ISBN-13: 978-3442741755
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