Heide Simonis: „Verzockt!“

Die langjährige Finanzministerin und Ministerpräsidentin Heide Simonis hat sich in ihrem Buch „Verzockt!“ mit der Finanzkrise und ihren weltweiten Auswirkungen beschäftigt. Im Vorwort betont sie, dass dieses Buch kein Tagebuch und keine Chronologie sein soll, sondern „charakteristische, markanten Szenen“ zeichnen soll, die das ganze Ausmaß der Krise deutlich machen.

Das Wort „Krise“ kommt vom altgriechischen „krinein“, was soviel heißt wie „trennen, (ent)-scheiden“. Wer in einer Krise steckt (Deutschland, wir alle) sollte sich darauf einstellen, dass er sich von Altgewohntem trennen muss. Deutschland muss sich entscheiden, von wem und was es sich scheiden möchte. Eine starke Führungskompetenz der Regierenden wäre heute mehr denn je gefragt. Wie es jedoch in Berlin aussieht, davon kann man sich jeden Tag in den Nachrichten ein Bild machen.

Wenngleich Frau Simonis darauf Wert legt, dass ihr Buch keine Chronologie der Ereignisse ist, so hält sie sich doch an eine chronologische Abfolge der Katastrophen, die zunächst zum Zusammenbruch einiger amerikanischer Investment-Banken, dem Platzen der amerikanischen Immobilien-Blase und dann zum globalen Flächenbrand führte, der die Weltwirtschaft in Gefahr und ganze Volkswirtschaften an den Abgrund brachte.

Und so beginnt das flüssig geschriebene Buch mit den Amerikanern: „Die US-Amerikaner lebten lange Zeit zufrieden und fröhlich mit ihren Kreditkarten, ihren Schulden und der Hoffnung auf den Erfolg des nächsten Tages.“ –

Natürlich ist dieser Satz ein Klischee und eine unzulässige Verallgemeinerung. Aber es charakterisiert perfekt die amerikanische Mentalität einer positiven und lebensbejahenden Grundeinstellung.

Schon bald brach die „amerikanische Katastrophe“ auch über den europäischen Kontinent herein. Allen voran traf es Großbritannien, aber auch Deutschland war unter den ersten Ländern, die die Krise spürten.

Dem Leser sind die schlimmsten Krisenherde und die größten Fehlentscheidungen der Verantwortlichen noch sehr gut im Gedächtnis: der „HRE-Tsunami“, den die Hypo Real Estate auslöste, das reihenweise Schlittern der Landesbanken in den Bankrott und auch der „Fall Opel“.

Die Diskussion um die Manager-Gehälte, die in Deutschland seit Jahren geführt wird, wurde noch getoppt durch den Skandal, den die Vorstände der Dresdner Bank auslösten, als sie sich trotz eines Jahresverlustes ihrer Bank von 6 Milliarden Euro selbst Boni und Gehälter in Höhe von 58 Millionen zahlten. Das war nicht mehr mit Gedankenlosigkeit zu erklären, sondern das war eine vorsätzliche Provokation.

Überhaupt haben wir es in den oberen Etagen der Wirtschaft teilweise mit windschlüpfrigen Exemplaren aus den Kaderschmieden der Managerelite zu tun. Heide Simonis scheint einigen dieser Leute selbst begegnet zu sein:

Wer je diese neuen, meist jünglingshaften Exekutoren der Finanzwelt mit ihrem geklonten Auftreten, vom Haar-Gel bis zum dunkeln Businessanzug, aus der Nähe erlebt hat, mit ihrer genormten Sprache, ihren Ticks und Spleens, ihrem Glauben an die eigene Unfehlbarkeit und der Unbarmherzigkeit, mit der sie den bestrafen, der ihren Prophezeiungen nicht folgt, der hat eine Lehrstunde fürs Leben erfahren.

Gemeint sind die geschniegelten „Exekutoren“ der Rating-Agenturen, die mit ihrer persönlichen Einschätzung der Bonität über die Zukunft der Banken, über Wohl oder Wehe entscheiden, die aber auch gleichzeitig als Anlageberater fungieren und dank dieser Doppelrolle in der Lage sind, den Markt nach ihren Interessen zu steuern. Wir alle wissen, dass diese Verknüpfung von divergierenden Interessen falsch ist. Es wäre Aufgabe der Politik, egal ob national oder international, diesem Missstand Einhalt zu gebieten.

Die Druckwelle, die von der Implosion des amerikanischen Immobilienmarktes ausging, wanderte um die ganze Welt. Sie traf zunächst Europa und Asien, aber ihre fatalen Auswirkungen bekam man auch in Afrika zu spüren. Vor allem diejenigen Länder, die ihre Wirtschaft dereguliert und sich dem globalen Markt hatten, leiden jetzt unter der Krise. So manche afrikanische Volkswirtschaft steht kurz vor dem Kollaps und muss mit hohen Inflation kämpfen. Nicht zuletzt sind dadurch auch viele Entwicklungshilfe-Projekte vom Scheitern bedroht.

Die Auswirkungen der globalen Krise machen aber leider auch vor der eigenen Haustür nicht Halt, sie durchdringen alle Ebenen der Gesellschaft. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Und die Krise ist noch lange nicht vorüber.

Am Ende ihres sowohl unterhaltsamen als auch informativen Buches lässt Heide Simonis den Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger zu Wort kommen, der sich dafür ausspricht, einerseits das Aktienrecht zu ändern und andererseits endlich die „wundersame Geldvermehrung“ durch die Geldmaschine zu beenden, die die Stabilität des Euro gefährdet.

Im Anhang des Buches gibt es dann noch ein paar interessante Checklisten, die als Diskussionsgrundlage dienen könnten, wie mit der Krise umgegangen werden könnte. Der Sozialphilosoph Bernhard Edmunds nennt „acht Thesen zum Neustart nach Krise“ und Ex-Bundespräsident Hörst Köhler wird mit einem Auszug aus seiner „Berliner Rede“ (März 2009) zitiert. Das letzte Wort hat der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Er hat ein „Alphabet der Krise“ zusammengestellt, das von A bis Z viele Merkwürdigkeiten unserer globalen Wirtschaftswelt umreißt.

Heide Simonis „Verzokt!“ liest sich wie ein 150-seitigen Spiegel-Artikel. Die Sprache ist flott und routiniert. Der Inhalt ist faktenreich, aber nicht überladen. Und so ist „Verzockt!“ eines der besten Bücher über ein Thema, das uns alle betrifft und leider wohl noch lange beschäftigen wird.

Autor: Heide Simonis
Titel: „Verzockt! – Warum die Karten von Markt und Staat neu gemsicht werden müssen“
Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
ISBN-10: 3525300026
ISBN-13: 978-3525300022

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