Ingrid Noll: „Ehrenwort“

Es ist eine scheinbar normale Familie, die Ingrid Noll hier portraitiert. Die Eltern haben sich nicht mehr viel zu sagen, die Tochter lebt in Berlin mit ihrer Lebenspartnerin zusammen, und Max, der Sohn, hängt in der Warteschleife für sein Medizinstudium.

Anstatt sich für sein angefangenes Anglistikstudium zu interessieren, kümmert er sich lieber um seinen neunzigjährigen Großvater Willy, der nach dem Tod seiner Frau Ilse vor ein paar Jahren immer noch allein in der mehr und mehr verwahrlosenden Wohnung in Dossenheim bei Heidelberg wohnt.

Max bekommt für seine Dienste ein Taschengeld vom Opa. Der knorrige Alte, der ständig mit lateinischen Zitaten um sich wirft, die er sogleich übersetzt, da ihn ja sowieso niemand versteht, hat einen kleinen Tresor im Küchenschrank. Darin bunkert er sein Bargeld. Max weiß, wo der Schlüssel ist.

Durch eine Unachtsamkeit kommt der Großvater zu Fall und wird mit einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus gebracht. Als während der Heilung plötzlich ein Lungenödem entdeckt wird, stehen die Chancen schlecht, dass es der Alte noch lange macht.

Harald, sein Sohn, ist wenig begeistert, als man seinen alten Vater nach Hause zur Familie holt. Max wird den Großvater pflegen, lange wird es wohl nicht mehr dauern, bis er das Zeitliche segnen wird. Doch es kommt ganz anders.

Die Vanillepudding-Diät, die Max seinem Opa verordnet, schlägt an, und der Alte fühlt sich von Tag zu Tag besser. Das liegt nicht zuletzt an der italienischen Pflegekraft Helena, die sich um die Körperpflege und die Mobilisierung des Alten kümmert.

Im Überschwang seiner wieder entdeckten Gefühle will der Alte die schöne Helena sogar heiraten. Daraus wird jedoch nichts, denn Helena hat selbst Mann und Kinder und ist sogar schon Großmutter. Aber das alles kann einen Willy Knobel nicht abhalten.

Sowohl Harald, der einst verstoßene und auch heute noch von seinem Vater schikanierte Sohn, als auch seine Frau Petra, die sehr den ehemaligen Hausfrieden Ihres Heims vermisst, versuchen auf verschiedenen Weisen, den grantigen Alten zur Strecke zu bringen. Es gelingt ihnen nicht, dafür lösen sie jedoch eine ganze Kette unerwarteter und unerwünschter Ereignisse aus.

Max merkt davon nicht viel, denn er hat sich in die zweite Pflegerin, die hübsche, junge Jenny, verliebt. Schnell jedoch ahnt er, dass es einen gemeinsamen Bekannten gibt, eine unschöne Erinnerung an einen Fehltritt von Max, der ihn heute noch eine Menge Geld kostet.

Die turbulente und sich immer weiter zuspitzende Geschichte endet mit zwei Schüssen aus einer Walther und einer unkonventionellen Entsorgung der Leiche. Der Großvater ändert sein Testament, und auch die Liebesgeschichte von Max und Jenny endet anders als erwartet.

Ingrid Noll bringt in ihrem neuen Roman ein hübsches Familienstück auf die Bühne. In der Tat taugt dieser Stoff sowohl für eine amüsante Bühnenadaption oder auch für einen spannenden Fernsehfilm.

Diese Offenheit des Formats spricht für die variantenreiche Story, aber sie zeigt auch, dass der Roman stilistisch nicht überzeugt. Die Charaktere werden zwar im Laufe der Geschichte anhand ihres Verhaltens nach und nach gezeichnet, aber die Charakterisierungen gehen nicht in die Tiefe.

Dies mag auch am Umfang des gewählten Sujets liegen. Die Story wird von sechs Personen getragen – Opa Willy, Sohn Harald mit seiner Frau Petra und den Kindern Mizzi und Max sowie der Pflegerin Jenny.

Dies scheint ein überschaubarer Reigen, aber vielleicht ist selbst das zuviel für die Ausschmückung von komplexen Charakteren, die auch mal in Widersprüche geraten und durch die Vielschichtigkeit ihres Handelns überraschen können. Hierzu reichen die 334 Seiten des Romans nicht aus.

Dennoch sollte man sich deshalb nicht von der Lektüre dieses unterhaltsamen und zuweilen auch bitterbösen Romans abhalten lassen. Fans von Ingrid Nolls Büchern braucht man diese Lese-Empfehlung nicht zu geben; aber den Neulingen sei dieses Buch wirklich wärmstens ans Herz gelegt. Es wird sie nicht enttäuschen, ganz im Gegenteil. – Ehrenwort!

Autor: Ingrid Noll
Titel: „Ehrenwort“
Gebundene Ausgabe: 336 Seiten
Verlag: Diogenes
ISBN-10: 3257067607
ISBN-13: 978-3257067606

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