Volker Weidermann: „Wenn ich eine Wolke wäre — Mascha Kaléko und die Reise ihres Lebens“

Volker Weidermanns Wenn ich eine Wolke wäre. Mascha Kaléko und die Reise ihres Lebens ist eine Hommage, eine Lebensbeschreibung und zugleich eine Rückkehrgeschichte, die sich wie ein Roman liest, ohne auf die Fiktion auszuweichen. Von der ersten Seite an zieht der Autor den Leser in eine erzählerische Szene hinein: Mascha Kaléko steht am Deck eines Schiffes, winkt ins Verschwinden, lässt Mann und Sohn zurück. Dieses Bild — halb Abschied, halb Aufbruch — ist programmatisch für den Ton des Buches: nah an der Figur, präzise in den Details, mit feiner Dramaturgie. Weidermann schreibt als Feuilletonist, nicht als Chronist im archivischen Sinn, und diese Entscheidung prägt jede Seite: Er erzählt in Szenen, ordnet historische Abläufe nicht als Katalog von Fakten, sondern als Abfolge verdichteter Momente, die sich zu einem stimmigen Bild fügen.

Der Lebensweg, den er dabei nachzeichnet, ist von ständiger Bewegung geprägt. Geboren 1907 im galizischen Chrzanów, wächst Kaléko in einer Familie auf, die vor Pogromen und politischer Unsicherheit nach Deutschland flieht. Früh entdeckt sie die Poesie, arbeitet nach einer Bürolehre an ihrem literarischen Zugang zur Berliner Bohème und findet ihren Weg ins Romanische Café, wo sie Erich Kästner, Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn und Franz Hessel begegnet. Weidermann erzählt diese Aufbruchsjahre mit sichtbarer Freude an den Anekdoten: das wilde Haar, die Latzhose, die selbstbewusste Haltung auf Hiddensee, der erste Buchvertrag mit Hessel und Rowohlt, das 1933 erschienene Lyrische Stenogrammheft. Er legt großen Wert auf diese Urszene des Erfolgs, wohl auch, weil sie den Kontrast zu den kommenden Jahren markiert.

Die biografische Linie folgt dann den Brüchen: 1935 lernt Kaléko den Musiker Chemjo Vinaver kennen, eine Beziehung, die zur Trennung von ihrem ersten Mann Saul Kaléko führt. Weidermann verschweigt nicht die komplexe und heikle Situation um die Vaterschaft ihres Sohnes Evjatar (später Steven), dokumentiert die Verwicklungen mit einem unveröffentlichten Gedicht, das in knapper Form die Trennungsszene umschreibt. Bald wird die politische Lage lebensgefährlich: Berufsverbot, Bücher auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“, Angriffe in NS-Publikationen. 1938 gelingt der Familie die Flucht über Paris in die USA.

Weidermann zeichnet den New Yorker Abschnitt mit liebevoller Detailfülle. Die Vinavers leben in Greenwich Village, Minetta Street 1. Chemjo gründet einen Chor, tritt in der Carnegie Hall auf, wird von Leonard Bernstein und Marc Chagall unterstützt. Mascha hingegen trägt den Alltag, organisiert Haushalt und Karriere ihres Mannes, schreibt nur sporadisch für Emigrantenblätter wie den Aufbau. Ihre poetische Stimme verändert sich: aus heiter-melancholischen Alltagsgedichten werden Texte voller Trauer und Anklage. Das Gedicht „Höre Teutschland“ von 1943, im Gedenken an die Opfer der Lager Maidanek und Buchenwald, ist ein literarischer Fluch, der den Zorn der Emigrantin in drastischen Bildern verdichtet.

Diese Jahre sind geprägt von Isolation und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, aber auch von einer stillen Integration ins Viertel: Weidermann lässt Hermann Kesten, Oskar Maria Graf und Valeska Gert auftreten, um das Netzwerk der Exilkultur in Manhattan zu beleuchten. 1945 erscheint Verse für Zeitgenossen — eine Mischung aus Liebesgedichten und politischer Anklage —, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, aber immerhin von Thomas Mann höflich, von Albert Einstein begeistert kommentiert.

Die Rückkehrfrage, die Weidermann als Leitmotiv nutzt, gewinnt in den 1950er Jahren an Gewicht. Der Rowohlt Verlag — nun in der Bundesrepublik wieder aktiv — bemüht sich mehrfach um die Neuauflage des Lyrischen Stenogrammhefts. Kaléko lehnt zunächst ab, zu groß ist das Misstrauen gegenüber dem Land, das sie vertrieben hat. Erst Mitte der fünfziger Jahre beginnt sie, die Fesseln zu lockern: finanzielle Entschädigung, das Erwachsenwerden des Sohnes, das Gefühl, mit ihrer ganzen Person wieder wirken zu können, machen eine Rückkehr denkbar. Weidermann schildert diesen Prozess als Mischung aus Kalkül und Unsicherheit, mit Briefen, in denen Kaléko Forderungen stellt, Fristen setzt, Reisepläne schmiedet und wieder verwirft. 1955 geht sie schließlich allein an Bord der America, Kurs Deutschland — die „Reise in ein Land, das es nicht mehr gibt“.

Die Rückkehr wird zu einem doppelten Experiment: Kann sie das Publikum wiedergewinnen? Und kann sie selbst den inneren Abstand überwinden? Weidermann begleitet diese Phase mit Szenen aus Briefen und Gesprächen, die zwischen Optimismus und Skepsis pendeln. Sie weiß, dass viele Deutsche „die lästige Vergangenheit“ lieber vergessen würden. Ihr Freund Kesten warnt sie vor der Erwartung, Emigranten sollten „vergeben und vergessen“. Dennoch will sie auftreten, ihre Gedichte lesen, über die Jahre der Verfolgung sprechen.

Weidermanns zentrale These — oder besser: sein erzählerisches Narrativ — ist, dass Mascha Kalékos Leben ein Spannungsfeld aus Heimweh, poetischer Selbstbehauptung und pragmatischer Anpassung war. Sie ist für ihn eine Dichterin, deren Werk zwischen den Stühlen der Literaturgeschichte steht: zu verspielt für den strengen literarischen Kanon, zu leicht für die Germanistik der Nachkriegszeit, zu deutsch für die amerikanische Öffentlichkeit und doch tief verankert im kollektiven Gefühl einer Generation. Dass sie posthum — mit einer Million verkaufter Taschenbuchausgaben bei dtv — zu einer Kultfigur wurde, deutet Weidermann als späte Gerechtigkeit, ohne den genauen Mechanismus der Wiederentdeckung auszuleuchten.

Gerade hier setzt die kritische Betrachtung an. Weidermann ist ein hervorragender Erzähler, kein wissenschaftlicher Analytiker. Er verwebt Briefe, Tagebücher, Gedichte und Zeitzeugenberichte zu einem lebendigen Text, aber er verzichtet weitgehend auf die quellenkritische Präzision einer akademischen Biographie. Zitate sind in den Fließtext eingebettet, es gibt keine durchgehenden Fußnoten, und die „Bibliographie. Eine Auswahl“ am Ende ist eben dies: eine Auswahl, keine vollständige Dokumentation. Für journalistische Maßstäbe ist die Recherche gründlich: Weidermann hat Briefe und Fotos im Deutschen Literaturarchiv Marbach konsultiert, Gespräche mit Zeitzeugen geführt, sich auf Vorarbeiten von Literaturwissenschaftlern gestützt. Für die Ansprüche einer wissenschaftlichen Monographie reicht die Präsentation jedoch nicht aus: Wer die genauen Provenienzen der Zitate oder die Textvarianten überprüfen will, muss zu den genannten Primärquellen greifen.

Diese erzählerische Freiheit ist zugleich Stärke und Schwäche des Buches. Sie erlaubt ihm, Kalékos Leben so zu inszenieren, dass historische Epochen in einzelnen Bildern greifbar werden — das Café Rienzi, die Bank in Hamburg vor der Abreise, das rote Backsteinhaus in der Minetta Street —, und dass Kalékos Gedichte als unmittelbare Kommentare zu den Lebenslagen erscheinen. Sie verhindert aber, dass sich ein klares wissenschaftliches Bild von Werkentwicklung, Publikationsgeschichte und Rezeptionsmechanismen ergibt.

Stilistisch überzeugt Weidermann mit einem Rhythmus, der zwischen knapper Reportage und poetischer Prosa pendelt. Er hat ein Gespür für die richtige Länge eines Zitats, für den Moment, in dem eine Szene wirkt, ohne ausgedehnt zu werden. Kleine ironische Brechungen — etwa in der Schilderung von Schiffsbekanntschaften oder den kulinarischen Enttäuschungen der Überfahrt — zeigen seine Nähe zum journalistischen Erzählen. Er schreibt warmherzig, oft mit einem Unterton leiser Bewunderung, und nur selten mit scharfer Distanz. Kritische Momente — Kalékos Ehekonflikte, ihre Distanz zur Familie, ihre Skepsis gegenüber Israel — werden zwar benannt, aber nicht in größere gesellschaftliche oder literaturpolitische Debatten eingeordnet.

Für literarisch interessierte Leserinnen und Leser ist das ein Gewinn: Das Buch liest sich wie eine lange, kunstvolle Reportage, die Wissen und Atmosphäre verbindet. Für Leser, die eine streng quellenkritische Untersuchung suchen, ist es eine Ausgangsbasis, die man ergänzen muss. Weidermann selbst signalisiert das, indem er seine wichtigsten Quellen nennt und anerkennt, dass er auf den Schultern anderer Forscher steht.

In der Gesamtschau ist Volker Weidermanns Wenn ich eine Wolke wäre eine gelungene literarische Biographie, die Mascha Kaléko in ihrer Widersprüchlichkeit und poetischen Eigenart sichtbar macht. Sie zeigt eine Frau, die zwischen den Polen Heimweh und Weltläufigkeit, Anpassung und Widerstand, Zärtlichkeit und Zorn lebte. Weidermann erzählt das mit Empathie und Sinn für Szenen, nicht mit dem Anspruch wissenschaftlicher Vollständigkeit. Das ist ein legitimer, bewusst gewählter Ansatz, der seine Zielgruppe klar anspricht: Menschen, die sich für Exilliteratur, deutsch-jüdische Kulturgeschichte und biographische Feuilletons interessieren.

Die Stärken dieses Buches liegen in der bildhaften Erzählweise, der geschickten Montage von Originalstimmen, der Einbettung ins historische Umfeld ohne akademischen Jargon; als Schwächen sind eine fehlende systematische Quellenkritik und eine gelegentliche Tendenz zur Mythisierung zu nennen.

Für ein breites literarisch interessiertes Publikum ist das Buch eine Empfehlung: Es vermittelt ein lebendiges Bild einer Dichterin, deren Werk literaturgeschichtlich lange unterhalb des Radars flog, und dem Autor gelingt dies in einer Sprache, die zugänglich und doch kunstvoll ist. Für eine rein wissenschaftliche Arbeit ist es eine anregende, aber nicht ausreichende Quelle; hier sollte man zu den genannten Editionen und Archiven greifen.

Volker Weidermann hat ein Buch geschrieben, das Mascha Kalékos Leben nicht neu erforscht, aber neu erzählt — und das auf eine Weise, die im Gedächtnis bleibt.

 

 

Autor: Volker Weidermann
Titel: „Wenn ich eine Wolke wäre — Mascha Kaléko und die Reise ihres Lebens“
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 240 Seiten
ISBN-10: 3462008633
ISBN-13: 978-3462008630