Hartmut Lange: „Der etwa vierzigjährige Mann“

Wer sich auf die Werke Hartmut Langes einlässt, betritt eine literarische Welt, die sich durch stille Präzision, existenzielle Tiefe und eine unverwechselbar melancholische Atmosphäre auszeichnet. Hartmut Lange ist ein Autor des Unausgesprochenen, des metaphysischen Staunens, ein Chronist seelischer Risse und metaphysischer Verstörungen. Seine Texte — insbesondere seine Novellen — wirken ein wenig wie lichtscheue Miniaturen, die das Banale transzendieren und in der Alltäglichkeit das Surreale, das Bedrohliche, das Unfassbare bloßlegen. Ein Autor, der sich jedem Zeitgeist widersetzt und genau dadurch von literarischer Dauer und Bedeutung ist.

Geboren wurde Hartmut Lange am 31. März 1937 in Berlin-Spandau. Seine Kindheit und Jugend waren von den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs geprägt, die Spaltung Berlins und die ideologischen Frontstellungen der frühen Bundesrepublik hinterließen tiefe Spuren in seiner Biografie. Er studierte zunächst Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Ost-Berlin. Später arbeitete er als Dramaturg am Deutschen Theater in Ost-Berlin. 1965 entschloss er sich zur Flucht in den Westen, ein Schritt, der nicht nur biografisch, sondern auch poetologisch bedeutsam ist: Die Erfahrung der Teilung, des Dazwischen, des Fremdwerdens im Eigenen, findet sich in vielen seiner Werke wieder. In West-Berlin fand der Autor schließlich jene kreative Freiheit, die er zur Entfaltung seines literarischen Kosmos benötigte.

Hartmut Lange begann seine literarische Karriere zunächst als Dramatiker, wandte sich aber bald der Prosa zu. Seinen besonderen Platz in der deutschen Literatur verdankt er der meisterlichen Form der Novelle. Seine Prosa ist asketisch, schnörkellos und doch voll dichterischer Resonanz. Die psychologische Dichte seiner Figuren, das permanente Oszillieren zwischen Realität und Halluzination, das Unheimliche, das sich im Vertrauten einnistet – all das macht sein Werk zu einer eigenständigen Stimme im literarischen Konzert der Nachkriegsmoderne.

Bei Diogenes ist nun ein kleiner Sammelband von drei Novellen unter dem Titel Der etwa vierzigjährige Mann erschienen.

Alle drei Texte dieses nur 128 Seiten starken drehen sich um einen „etwa vierzigjährigen Mann“, der als zentrale Figur die jeweilige Handlung voranbringt. Im ersten (titelgebenden) Text fungiert eine Carruca, ein von einem Pferd gezogener schwerer Räderpflug, als eine Zeitmaschine. In dieser Traumnovelle reist der „etwa vierzigjährige Mann“ durch die Zeit und an Orte, die für sein Leben eine Bedeutung haben. In Stilistik und Erzählperspektive erinnert er an Texte der Romantik; das Motiv der immer zur rechten Zeit auftauchenden Carruca trägt die Handlung durch die Zeit.

Den zweiten Text mit dem Titel Die Unberührbare verortet der Autor selbst im Untertitel („Nach einem Motiv von Arthur Schnitzler“) in die Zeit um 1900. Dieses kurze Drama (in acht Abschnitten) ist nicht nur meisterhaft den Stücken von Arthur Schnitzler nachempfunden, sondern unterhält durch die Absurdität der überraschenden Verstrickungen und der durch die bürgerliche Etikette jener Zeit verursachten Missverständnisse um die formgerechte Überbringung einer traurigen Nachricht.

Der letzte Text Auf der Durchreise schildert schließlich eine geradezu kafkaesk anmutende Begegnung zwischen dem Ich-Erzähler und einem mit dem Zug nach St. Petersburg reisenden Herrn Ordinow. Der sich zwischen diesen beiden Figuren entspinnende Dialog über die Sinnlosigkeit des Lebens und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen liest sich wie eine Kurzerzählung von — ja, eben Franz Kafka — oder auch von Anton Tschechow.

Die drei in diesem schmalen Bändchen versammelten Texte um einen „etwa vierzigjährigen Mann“ präsentieren einen schönen Querschnitt der meisterhaften Erzählkunst von Hartmut Lange. Wer diesen großartigen Dramatiker und Erzähler immer noch nicht kennt, sollte dies dringend ändern — beispielsweise durch die Lektüre dieses kleinen Sammelbandes! Und allen Leserinnen seiner Texte ist diese Neuerscheinung sowieso zu empfehlen.

 

 

 

 

Autor: Hartmut Lange
Titel: „Der etwa vierzigjährige Mann“
Herausgeber: Diogenes
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
ISBN-10: 3257073437
ISBN-13: 978-3257073430