„Ich bin kein Hellseher, ich sehe schwarz.“ Ganz so pessimistisch, wie Robert Menasse in der Mitte seines politischen Essays resümiert, bleibt er am Ende doch nicht. Auf knapp 190 Seiten regt er sich zurecht über die Lethargie und Schockstarre der westlichen Demokraten in Europa auf, echauffiert sich angesichts einer ständig wachsenden Bedrohung der Demokratie durch die Neue Rechte, die den europäischen Kontinent Land um Land und scheinbar ohne großen Widerstand in einen Kontinent der souveränen und autarken Nationalstaaten umwandeln möchte. Ganz im Sinne einer rechtskonservativen Reconquista findet offensichtlich seit Jahren ein Ausverkauf der europäischen Freiheitsideen zugunsten nationalstaatlicher Autonomie- und Autarkie-Bestrebungen statt – und die Menschen finden es anscheinend toll.
Was ist los in und mit Europa? Ist die europäische Idee eines freiheitlich-demokratischen Kontinents, die Idee eines friedlichen Europas der Regionen und mit einem gemeinsamen schrankenlosen Binnenmarkt nicht mehr attraktiv? – Was ist so toll an anti-europäischen und nationalistischen politischen Programmen der Abgrenzung? Worin liegt der Charme einer Anti-Haltung gegenüber Globalisierung und Freihandel?
Nicht erst seit dem 20. Januar 2025, mit der Amtsübernahme von Donald Trump und der Ausrufung eines neuen „Goldenen Zeitalters“ für die USA zulasten der restlichen Welt, sollte klar sein, wohin solch eine Politik am Ende führt. Aber Europa hinkt dem Großen Bruder auf der anderen Seite des Atlantiks in allen Entwicklungen um einige Jahre hinterher, und so auch dieses Mal. Die Trump-Agenda ist klar umrissen: Deregulierung im eigenen Land und strikte Regulierungspolitik nach außen mithilfe von Zöllen.
Aber das vorliegende Buch zielt in eine andere Richtung. Es geht dem österreichischen Schriftsteller und bekennenden Europäer Robert Menasse in erster Linie um die kulturelle Vielfalt, um die freiheitlich-demokratische Verfasstheit eines europäischen Miteinanders in Frieden und sozialer Sicherheit. Hierbei vermeidet er keineswegs kritische Töne, was die europäische Union und ihre politischen Institutionen betrifft, die immer noch nicht das nötige Maß an direkter demokratischer Legitimierung (und somit auch nicht an dem politischen Ansehen) in der Bevölkerung genießen. Nicht nur von den antieuropäischen Kräften der Neuen Rechten wird die fehlende Bürgernähe und die mangelnde Transparenz der europäischen Politik in Brüssel bemängelt. – Und trotzdem: Zu einem demokratischen, friedlich und sozialen Europa sieht der Autor keine echte Alternative.
Wir leben in einem friedlichen Europa, wenn auch der Balkankrieg in den 1990ern und der Ukrainekrieg seit 2014 uns eines Schlechteren belehren wollen. Ein ehrlicher Blick in die fernere Vergangenheit lässt uns erinnern an den 1. Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) und an den 2. Dreißigjährigen Krieg (1914-1945), der eine ein Glaubenskrieg, der andere ein Krieg der Ideologien. Erst die europäische Einigung und die damit einhergehende Zurückstellung nationaler gegenüber gesamteuropäischen Interessen hat die nötigen Grundlagen für einen europäischen Frieden geschaffen.
Dabei muss und soll die nationale Identität in einem gemeinsamen Europa nicht verlorengehen, ganz im Gegenteil. Erst durch die Garantie nationaler Integrität und kultureller Identität wird jene kulturelle Vielfalt möglich, die eine der großen Stärken Europas ist. Hier sind wir auch im Zentrum der Argumentation von Robert Menasse angekommen: kulturelle Vielfalt als neue (alte) Basis des europäischen Freiheitsgedankens für eine friedliche und freiheitliche „Welt von morgen“.
Die große Stärke der freiheitlich-demokratischen Idee Europas ist ihre Offenheit. Doch genau hierin liegt auch ihre größte Verwundbarkeit. Es sind nicht zuletzt die „sozialen“ Medien, in denen die „Freiheit des Wortes“ für die massenhafte Verbreitung von Fake News, rechtem und antieuropäischem „Gedankengut“ und „alternativen Fakten“ missbraucht wird. Trotzdem darf auf diese Form der freien Meinungsäußerung nicht verzichtet werden, denn sie ist ein Grundpfeiler politischer Teilhabe in einer Demokratie. Offenheit ist die Grundvoraussetzung für einen freien Meinungsaustausch.
Dasselbe gilt für ideologische „Brandmauern“, wie sie von den etablierten Parteien auch in Deutschland eher krampfhaft und aus Hilflosigkeit hochgezogen und aufrechterhalten werden, wenn es um rechte Newcomer wie die AfD geht. Man will mit „den Rechten“ nichts zu tun haben und hofft, sie wieder loszuwerden, indem man sie ignoriert. Wie kleine Kinder, die hoffen, dass die bösen Geister verschwunden sind, wenn sie die geschlossenen Augen wieder öffnen. – Funktioniert leider nicht. Freier Meinungsaustausch bedeutet eben auch die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden.
Seien wir ehrlich zu uns selbst: Europa befindet sich längst im Kampf-Modus, und auch die Demokratie ist in Gefahr. Wir haben uns zu lange ausgeruht und zugeschaut. Wir haben zu lange gewartet. Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen und mit dem Bade ausgeschüttet, der Hase liegt im Pfeffer und die Demokratie steht in immer mehr europäischen Ländern mit dem Rücken zur Wand. – Es ist wieder mal höchste Zeit, das Gute gegen das Böse zu verteidigen und für den Erhalt dessen zu kämpfen, was wir schon viel zu lange als selbstverständlich erachtet haben. Das Selbstverständliche ist das Bedrohte geworden, und die Feinde Europas und der Demokratie sind mit vollem Eifer dabei, eine ganz neue Welt „alternativer Fakten“ zu schaffen, die in vielerlei Hinsicht sehr verstörend an eine ganz alte Welt erinnert.
Robert Menasses leidenschaftliches Plädoyer für ein freiheitliches Europa überzeugt vor allem, weil er zuallererst Fragen stellt und nicht gleich die „richtigen“ Antworten liefert, sondern den Leser zum Nachdenken anregt: Wie wollen wir die „Welt von morgen“ gestalten? Wie soll sie aussehen, jene viel besungene „kulturelle Vielfalt“, die bei aller europäischen Gemeinsamkeit doch die nationalen Identitäten nicht vernachlässigt?
In seinem politischen Essay plädiert er eindrücklich dafür, endlich die Augen zu öffnen und den rechten Fakten-Schaffern ins grinsende Gesicht zu schauen. Wir sind immer noch die Mehrheit, und wenn unsere Regierungen die direkte Konfrontation mit der Neuen Rechten aus Ignoranz, Arroganz oder aus Angst vor dem Abriss von „Brandmauern“ scheuen, müssen wir (alle) eben selbst ran an die Sache.
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss verteidigt werden; soziale und kulturelle Vielfalt schaffen sich auch nicht von selbst, sondern brauchen die Unterstützung der Mehrheit, ansonsten gehen sie verloren. Das war uns lange nicht klar, aber die zahlreichen Beispiele politischer Transformations- und Regressions-Prozesse in unseren europäischen Nachbarländern zeigen eindrücklich, was passiert, wenn man reaktionären und nationalistischen Parteien die Macht in die Hände gibt.
„Die Welt von morgen“ ist ein starkes Buch, ein wichtiger Beitrag zur politischen Kultur und (hoffentlich) ein Anstoß zu vielen politischen Debatten und konstruktiven Streitgesprächen.
In diesem Sinne: Lesen ist erste Bürgerpflicht!
Autor: Robert Menasse
Titel: „Die Welt von morgen – Ein souveränes Europa – und seine Feinde“
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
ISBN-10: 351843165X
ISBN-13: 978-3518431658