Solange noch kein Wirkstoff gegen die Tuberkulose gefunden ist, „ist die zentrale Therapie in unseren Heilstätten das Wohlbefinden. Wir streben danach, alles zu beseitigen, was uns aus dem Gleichgewicht bringt, und bemühen uns, Körper und Seele in jenen Frieden zurückzuführen, dessen Fehlen oft die Ursache von Krankheiten ist.“
Diese Worte stammen von Professor Blomberg, in dem neuen Roman von Ulla Lenze der Leiter der Beelitzer Heilstätten. Jene um die Jahrhundertwende mitten in den Kiefernwäldern südwestlich von Berlin errichteten Heilstätten dienten der Bekämpfung der Tuberkulose in der Reichshauptstadt. Dort führten die beengten und unhygienischen Verhältnisse in den berüchtigten Mietskasernen zu einer massenhaften Ausbreitung der Lungenerkrankung, besonders unter der armen Bevölkerung.
Die „Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz-Heilstätten“, so der vollständige Name, gehörten zu ihrer Zeit zum Modernsten, was man sich vorstellen konnte: fließend Wasser, elektrisches Licht, Elektro-Fahrzeuge, die auf dem Gelände fuhren (…) — Die Arbeiterinnen sollten fernab ihrer ärmlichen Umgebung mithilfe von kalorienreicher Ernährung, ausgiebigen Luftbädern und viel Ruhe wieder aufgepäppelt werden, um dann möglichst schnell wieder zurück in den Arbeitsprozess geschickt zu werden. Was also auf den ersten Blick wie ein mildtätiger Akt der Barmherzigkeit erscheint, war nüchtern betrachtet eine sozialpolitische Maßnahme mit knallhartem wirtschaftlichem Kalkül.
In diesem Setting spielt der Roman. Die wohlhabende und gutbürgerliche Gattin Johanna Schellmann hat ein Ohr für die Belange der Armen, und sie sieht ihre Berufung darin, Schriftstellerin zu werden. Auf Anregung ihres Mannes, der als Mediziner auf der Suche nach einem Medikament gegen Bakterien an Schimmelpilzen forscht, wird Johanna auf die neu errichteten Beelitzer Heilstätten aufmerksam.
Bei einer Besichtigung des Geländes macht sie die Bekanntschaft mit Anna, einem hellsichtigen Medium. Fasziniert von dieser Patientin und ihren Fähigkeiten entwickelt sich eine enge Beziehung zwischen den beiden Frauen. — Aber das ist nur ein Handlungsstrang von mehreren, die in diesem Roman miteinander verbunden sind.
„Das Wohlbefinden“ ist nicht nur eine komplexe Familiengeschichte, die sich über mehrere Generationen von der Zeit um 1900 bis in die Anfänge der Corona-Pandemie 2020 erstreckt, sondern lässt sich auch auf einer anderen Ebene als Buch lesen, das sich mit den Lebensentwürfen und gesellschaftlichen Zwängen, den Träumen und dem Selbstbetrug von Frauen beschäftigt, die schon früh durch die mütterlichen Erziehungsmuster eingeengt wurden und sich zwangsläufig in Lebenslügen verstricken, aus denen sie sich nur befreien können, indem sie der Wahrheit ins Gesicht sehen.
Während der geplante Roman über die Patientinnen in den Heilstätten nicht vorankommt, beginnt Johanna mit Annas Hilfe über etwas anderes zu schreiben, was viel näher liegt als jene Heilstätten-Geschichte; sie schreibt über sich selbst und über ihr gespanntes Verhältnis zur Mutter. Johannas Roman „Das Schmuckzimmer“ wird ein großer literarischer Erfolg, und ihre Anklage der repressiven Mädchenerziehung im wilhelminischen Zeitalter wird gefeiert als ein mutiger Beweis weiblicher Emanzipation im Zuge der Frauenbewegung.
Ulla Lenze gelingt es in ihrem Roman, die Spannung bis zur letzten Seite zu halten, indem sie Vanessa, die Urenkelin von Johanna, auf Spurensuche schickt. Vanessa fliegt aus ihrer Wohnung im Wedding raus und landet auf Umwegen in den luxussanierten Beelitzer Heilstätten, von wo sie die wahre Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter Stück für Stück rekonstruiert. — Das liest sich teilweise spannend wie ein Krimi, doch die eigentliche Qualität dieses Romans liegt in dem großen Talent der Autorin, die emotionalen Spannungen und Schwankungen der Figuren sicht- und fühlbar zu machen. „Das Wohlbefinden“ ist ein bemerkenswertes Buch und garantiert eine unterhaltsame Lektüre, die nicht zuletzt auch zum Nachdenken über das Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit einlädt.
Autor: Ulla Lenze
Titel: „Das Wohlbefinden“
Herausgeber: Klett-Cotta
Gebundene Ausgabe: 336 Seiten
ISBN-10: 3608986855
ISBN-13: 978-3608986853