Felix Wiedemann: „Rassenbilder aus der Vergangenheit — Die anthropologische Lektüre antiker Bildwerke in den Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts“

Manchmal haben Pandemien auch ein Gutes. Zumindest trifft dies auf die vorliegende Forschungsarbeit von Felix Wiedemann zu: Ursprünglich war „nur“ eine vergleichende Studie zweier Forschungsreisen — der britischen Petrie-Expedition von 1886/87 und der von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ausgerichteten „Fremdvölkerexpedition“ von 1912/13 — geplant, deren Bildmaterialien vor Ort in Berlin und London in den Archiven durchsucht, katalogisiert und analysiert werden sollten. Doch dann kam Covid-19, und der Zugang zum Londoner Archivmaterial war auf unbestimmte Zeit verschlossen.

Wiedemann machte aus seiner Forschungsnot eine Tugend und stellte sein Projekt neu auf, indem er neben jener vergleichenden Studie den Forscherblick vor allem auf die Medien und Reproduktionstechniken jener historischen anthropologischen Untersuchungen legte. Hierbei stellte er auch die zeitgenössische anthropologische Lektüre in einen größeren wissenschafts-, medien- und ideologiegeschichtlichen Kontext.

Antike Bildwerke wurden im 19. Und 20. Jahrhundert einer „anthropologischen Lektüre“ unterzogen. Mit diesem Begriff bezeichnet Wiedermann eine „bisher nur unzureichend untersuchte“ Methode bei der Analyse historischer Bildwerke. Einer solchen Analyse bedienten sich sehr unterschiedliche Wissenschaften, wie Kunstgeschichte, Archäologie, Ägyptologie und Orientalistik, Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Anthropologie und Medizin. Anhand historischer Bildvorlagen begab man sich auf die Suche nach physischen Differenzen zwischen Menschengruppen und betrieb eine Art racial profiling. Der direkte oder indirekte Vergleich der historischen Bildwerke mit rezenten Bevölkerungsgruppen diente als Beleg für die Evidenz dieser Methode.

Neben jener anthropologischen Lektüre antiker Bildwerke gehörte auch die anthropologische Vermessung lebender Menschen zum Instrumentarium der Rassenwissenschaften, die vor allem im frühen 20. Jahrhundert bis in die Jahrhundertmitte mit Nachdruck betrieben wurden und schließlich in den eugenischen und rassenideologischen Programmen des Dritten Reichs ihre menschenverachtende Umsetzung fanden.

Die Zielsetzung und Funktion der anthropologischen Lektüre unterschieden sich interessanterweise bei der Rezeption von ägyptischen und griechischen Bildwerken: Während die ägyptischen bzw. altorientalischen Vorlagen der Reproduktion des realen physischen Erscheinungsbildes historischer Personen dienten und als Abbilder bzw. Typenbilder betrachtet wurden, galten die griechischen Bildwerke von vornherein als Idealbilder menschlicher Darstellungen, welche für die anthropologische Lektüre weniger geeignet schienen.

Die vorliegende Studie ist am Schnittpunkt von Wissenschafts-, Medien- und Ideologiegeschichte angesiedelt und untersucht auf einer ersten Ebene die anthropologische Lektüre historischer Bildwerke als spezifische Methode der Rassenwissenschaften des 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Auf der zweiten Ebene richtet der Autor sein Augenmerk auf die Bedeutung der medialen Erfassung und der Reproduktionstechniken jener Zeit. Während zunächst Zeichnungen der Originale die Vorlage für weitere mediale Transformationsprozesse bildeten, um eine drucktechnische Vorlage zu erstellen, waren es später oft Fotografien, die als Ausgangsmaterial dienten, jedoch vor der Entwicklung fotomechanischer Rastertechniken ebenfalls in ein für den ruck geeignetes Medium (Holzstich, Kupferstich oder Lithografie) verwandelt werden mussten.

Mediale Transformationen verlaufen niemals bruchlos, sondern sind geprägt von einer mehr oder weniger starken Abweichung von der originalen Vorlage. Diese Abweichung kann technische Gründe haben oder auch intentional erfolgen.

Ein dritter Schwerpunkt dieser umfassenden Studie liegt auf der Verwendungsgeschichte der anthropologisch gedeuteten Abbildungen und ihre ideologische Funktion in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Kontexten.

Als materiale Quellen dieser Forschungsarbeit dienen die umfangreichen Materialsammlungen der beiden Forschungsexpeditionen um die Wende zum 20. Jahrhundert — die Petrie-Expedition von 1886/87 und die „Fremdvölkerexpedition“ von 1912/13:

Die Petrie-Expedition (1886/87) und die Fremdvölkerexpedition (1912/13) unterschieden sich grundlegend in ihren wissenschaftlichen Zielen und Methoden. Während Petrie sich auf archäologische und kulturhistorische Studien in Ägypten konzentrierte und dabei stratigraphische Methoden und Typologie einführte, fokussierte sich die Fremdvölkerexpedition auf die anthropometrische Vermessung indigener Völker, um rassentheoretische Annahmen zu bestätigen. Beide Expeditionen nutzten systematische Messungen, doch Petries Arbeit zielte auf die Rekonstruktion vergangener Kulturen, während die Fremdvölkerexpedition rassistische Klassifikationen der Gegenwart forcierte. Gemeinsam war ihnen die wissenschaftliche Methodik, jedoch mit unterschiedlichem Fokus und ethischem Kontext.

Die vorliegende interdisziplinäre Studie schließt eine Lücke in der Forschungslandschaft. Felix Wiedemann gelingt es, im Vergleich zweier Forschungsexpeditionen um 1900 die komplexe Bedeutung historischer Bildwerke für die anthropologische Lektüre aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und damit jenen bislang von der Forschung vernachlässigten Aspekt der Wissenschaftsgeschichte für weitere Forschungsansätze zu erschließen.

Das reich illustrierte und mit einem umfangreichen Apparat versehende Sachbuch ist im Wallstein-Verlag erschienen und erfreut den Leser durch seine hohe Druckqualität und eine hochwertige Verarbeitung.

 

 

 

 

Autor: Felix Wiedemann
Titel: „Rassenbilder aus der Vergangenheit — Die anthropologische Lektüre antiker Bildwerke in den Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts“
Herausgeber: Wallstein Verlag
Gebundene Ausgabe: 472 Seiten
ISBN-10: 3835356429
ISBN-13: 978-3835356429