Kersten Knipp: „Die Erfindung der Eleganz — Europa im 17. Jahrhundert und die Kunst des geselligen Lebens“

Das 17. Jahrhundert markierte eine transformative Ära in Europa, geprägt von politischen, sozialen und kulturellen Umbrüchen, die nicht nur die Struktur der Gesellschaft, sondern auch die Interaktionen zwischen ihren Mitgliedern tiefgreifend veränderten. Besonders hervorzuheben ist die Entwicklung von Geselligkeit und Eleganz, die in dieser Zeit als zentrale Elemente des sozialen Lebens sowohl in bürgerlichen als auch in adeligen Kreisen ihren Ursprung fanden.

Die Geselligkeit, das soziale Miteinander in Form von Zusammenkünften, Salons, Bällen und Festen, entwickelte sich zu einem festen Bestandteil des Lebens, das weit über die bloße Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten hinausging. Sie wurde zum Ausdruck von Gemeinschaftssinn, sozialem Status und kulturellem Austausch. Gleichzeitig entstand eine neue Auffassung von Eleganz, die sich nicht nur in der Mode und den Umgangsformen, sondern auch in der Architektur, Kunst und Literatur manifestierte. Diese Erfindung der Eleganz wurde zu einem Unterscheidungsmerkmal zwischen den sozialen Schichten und prägte das Selbstverständnis der aufstrebenden bürgerlichen Klasse ebenso wie das des etablierten Adels.

Im 17. Jahrhundert war Europa von tiefgreifenden Veränderungen geprägt. Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) hinterließ weite Teile des Kontinents verwüstet, aber auch mit neuen politischen Konstellationen und sozialen Strukturen. Absolutistische Herrscher wie Ludwig XIV. von Frankreich etablierten zentrale Machtstrukturen, die das Leben der Adeligen stärker an die Höfe banden und die Bedeutung des höfischen Lebensstils betonten. Gleichzeitig wuchs die Bedeutung der Städte und des Bürgertums, das durch Handel und Wirtschaft an Einfluss gewann. Dieser gesellschaftliche Wandel förderte eine Vermischung von kulturellen Praktiken und führte zur Entstehung neuer Formen der Geselligkeit und der sozialen Distinktion.

Der Adel des 17. Jahrhunderts war eng mit den höfischen Strukturen verknüpft, die einen zentralen Ort für die Ausübung und Verfeinerung von Geselligkeit und Eleganz darstellten. Der Hof war nicht nur eine politische, sondern auch eine kulturelle Institution, in der die Normen und Ideale des gesellschaftlichen Lebens entwickelt und verbreitet wurden. Besonders in Frankreich unter Ludwig XIV., dem „Sonnenkönig“, erreichte der Hof in Versailles eine beispiellose Prachtentfaltung. Hier wurden Eleganz und Anmut zur Schau gestellt, und die Kunst der Konversation sowie die Perfektionierung der höfischen Umgangsformen wurden zum höchsten Gut erhoben.

Die geselligen Zusammenkünfte am Hof, wie Bälle, Maskeraden, Jagdgesellschaften und Bankette, waren nicht nur Gelegenheiten zur Unterhaltung, sondern auch zur Demonstration von Status und Macht. Dabei spielte die Etikette eine entscheidende Rolle: Wer sich am Hof behaupten wollte, musste die Regeln der Höflichkeit und des angemessenen Auftretens beherrschen. Diese Regeln wurden in detaillierten Anleitungen festgehalten, die den Adeligen vorschrieben, wie sie sich in verschiedenen Situationen zu verhalten hatten. Das „Sich-Zur-Schau-Stellen“ wurde zu einer Kunstform, in der Kleidung, Sprache und Verhalten fein abgestimmt sein mussten.

Der Hof diente somit als Modell für den Adel in ganz Europa. Viele europäische Höfe orientierten sich an den französischen Vorbildern, und der französische Einfluss auf Mode und Etikette verbreitete sich bis in die entlegensten Ecken des Kontinents. Diese Verbreitung führte zu einer zunehmenden Homogenisierung des Adels in Bezug auf kulturelle Normen und soziale Praktiken, wobei Eleganz und Geselligkeit als zentrale Merkmale dieser neuen Adelskultur galten.

Parallel zur höfischen Geselligkeit entwickelte sich im städtischen Bürgertum eine eigene Form der sozialen Zusammenkunft, die sogenannte Salonkultur. In den Städten Europas, vor allem in Paris, London und Amsterdam, entstanden Salons, in denen sich Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller und wohlhabende Bürger trafen, um über Kunst, Literatur, Wissenschaft und Politik zu diskutieren. Diese Salons, häufig von gebildeten Frauen organisiert, wurden zu Zentren des intellektuellen und kulturellen Austauschs und boten eine Alternative zur höfischen Geselligkeit, die oft als formal und starr empfunden wurde.

Die Salonkultur förderte eine neue Art von Eleganz, die weniger auf Prunk und Pracht beruhte, sondern auf Bildung, geistigem Austausch und der Kunst des Gesprächs. Hier wurde die Fähigkeit zur geistreichen Konversation ebenso geschätzt wie das Wissen um die neuesten literarischen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Der Salon bot eine Bühne für die Präsentation von Ideen und die Förderung neuer Talente, die in den offiziellen akademischen und höfischen Strukturen keinen Platz fanden.

Dieser bürgerliche Anspruch auf Kultur und Bildung führte zu einer allmählichen Veränderung der sozialen Hierarchien. Während der Adel weiterhin durch Geburt und Besitz privilegiert war, erhob das Bürgertum zunehmend den Anspruch auf kulturelle Führungsrollen. Der Salon, in dem Eleganz durch Geist und Umgangsformen definiert wurde, ermöglichte es dem Bürgertum, sich in der Gesellschaft zu positionieren und seine Rolle in der kulturellen Entwicklung Europas zu stärken.

Eleganz im 17. Jahrhundert war weit mehr als nur eine Frage des äußeren Erscheinungsbildes. Sie umfasste eine ganze Lebenshaltung, die sich in Kleidung, Benehmen, Sprache, Architektur und Kunst ausdrückte. Im Zentrum dieser neuen Auffassung von Eleganz stand das Bestreben, sich durch Raffinesse, Mäßigung und Geschmack von anderen abzuheben. Während die höfische Eleganz durch Pracht, Überfluss und die Perfektion der Etikette geprägt war, entwickelte sich in bürgerlichen Kreisen eine subtilere Form der Eleganz, die sich auf geistige und ästhetische Werte stützte.

Ein Schlüsselbereich der Erfindung der Eleganz war die Mode. Im 17. Jahrhundert erlebte die europäische Mode einen tiefgreifenden Wandel, der eng mit den gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft war. Die Mode am Hof war extravagant und aufwendig, mit prächtigen Stoffen, aufwendigen Verzierungen und komplizierten Schnitten, die den Reichtum und die Macht ihres Trägers unterstreichen sollten. Diese Mode verbreitete sich nicht nur in adeligen Kreisen, sondern auch im Bürgertum, das durch den Erwerb solcher Kleidungsstücke seine soziale Stellung demonstrieren wollte.

Gleichzeitig entwickelte sich in den Städten eine Mode, die weniger auf Überfluss und mehr auf Schlichtheit und Stilbewusstsein setzte. Die bürgerliche Mode zeichnete sich durch eine schlichtere Eleganz aus, die oft als eine Art Gegenbewegung zur prunkvollen Hofmode verstanden wurde. Diese neue Art der Eleganz spiegelte das bürgerliche Ideal von Mäßigung und Tugendhaftigkeit wider und wurde zu einem Ausdruck von Selbstdisziplin und moralischer Überlegenheit.

Eleganz fand jedoch nicht nur in der Mode, sondern auch in der Architektur und dem Interieur Ausdruck. Die prunkvollen Schlösser und Residenzen des Adels, wie Versailles, waren nicht nur Wohnorte, sondern auch Symbole für den Anspruch auf Macht und Schönheit. Diese Bauten setzten neue Maßstäbe für Eleganz, die in ihrer Symmetrie, den prachtvollen Gärten und der reichen Innenausstattung zum Ausdruck kam. Gleichzeitig entstanden in den Städten bürgerliche Wohnhäuser, die durch eine zurückhaltendere, aber dennoch anspruchsvolle Architektur gekennzeichnet waren. Hier stand die Funktionalität im Vordergrund, kombiniert mit einer schlichten, aber stilvollen Gestaltung, die den bürgerlichen Geschmack widerspiegelte.

Ein zentraler Aspekt der Geselligkeit im 17. Jahrhundert war die Kunst der Konversation. Sowohl am Hof als auch im bürgerlichen Salon spielte die Fähigkeit, sich gewandt und anmutig auszudrücken, eine entscheidende Rolle. Die Konversation war nicht nur ein Mittel des Austauschs, sondern auch eine Bühne, auf der man seinen eigenen Geist und seine soziale Kompetenz zur Schau stellen konnte.

Im höfischen Umfeld war die Konversation stark reglementiert und folgte strengen Regeln der Etikette. Man musste in der Lage sein, komplizierte Höflichkeitsfloskeln zu verwenden, Anspielungen zu verstehen und gleichzeitig eine angenehme Unterhaltung zu führen, ohne dabei zu direkt oder zu fordernd zu wirken. Die Fähigkeit, dies zu meistern, war ein Zeichen von Eleganz und wurde als unverzichtbare Qualifikation für den sozialen Aufstieg am Hof angesehen.

Im Gegensatz dazu war die Konversation in den bürgerlichen Salons freier und oft intellektueller geprägt. Hier wurde Wert auf Gelehrsamkeit und den Austausch von Ideen gelegt. Die Teilnehmer mussten belesen und informiert sein, um an den Diskussionen teilhaben zu können. Die Kunst der Konversation war somit ein Ausdruck von Bildung und kultureller Verfeinerung, die den neuen bürgerlichen Eliten eine Möglichkeit bot, sich von der Masse abzuheben.

Sprache wurde zu einem Werkzeug der sozialen Unterscheidung. Der Gebrauch von Fremdsprachen, insbesondere des Französischen, das als Sprache des Adels und der gebildeten Kreise galt, wurde ein Zeichen von Bildung und Weltgewandtheit. Gleichzeitig entwickelten sich in den Städten neue Sprachformen und Dialekte, die das Aufkommen einer bürgerlichen Identität und Kultur widerspiegelten.

Die Geselligkeit und die Erfindung der Eleganz im 17. Jahrhundert waren Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels in der europäischen Gesellschaft. In einer Zeit, die von politischen Umbrüchen, wirtschaftlichem Wandel und kultureller Erneuerung geprägt war, entwickelten sich neue Formen des sozialen Miteinanders und der Selbstrepräsentation, die sowohl den Adel als auch das Bürgertum prägten. Die Höfe Europas wurden zu Zentren der Eleganz und der sozialen Distinktion, während in den Städten eine bürgerliche Kultur der Geselligkeit und des geistigen Austauschs entstand.

Eleganz wurde zu einem Schlüsselbegriff, der weit über die Mode hinausging und eine neue Lebenshaltung beschrieb, die sich in allen Bereichen des Lebens widerspiegelte. Ob in der Kleidung, der Architektur, der Kunst oder der Sprache – die Erfindung der Eleganz war eine Antwort auf die Herausforderungen einer sich verändernden Welt und ein Versuch, inmitten von Wandel und Unsicherheit eine neue Ordnung und Identität zu schaffen. Diese Entwicklungen legten den Grundstein für das moderne Verständnis von Kultur und Gesellschaft und prägten das europäische Selbstverständnis für die kommenden Jahrhunderte.

Der Publizist und Journalist Kersten Knipp veröffentlicht seit vielen Jahren erfolgreiche Sachbücher zu unterschiedlichen, meist historischen Themen. Seine Geschichte der „Erfindung der Eleganz“ fügt sich gut in sein Portfolio kulturgeschichtlicher Publikationen ein. Das vorliegende Buch erschien bereits 2022 als Hardcover im Reclam-Verlag und ist nun als preisgünstige Taschenbuch-Ausgabe erhältlich.

Der Autor besitzt die Gabe, sein Wissen anschaulich zu vermitteln, anstelle der trockenen Vermittlung von spröden Informationen vor allem interessante Geschichten zu erzählen und seinen Stoff durch eine Fülle von Anekdoten zu würzen. So liest sich dieses Buch wie eine spannende Erzählung aus einer längst versunkenen Welt, und die Lektüre wird niemals langweilig.

 

 

 

Autor: Kersten Knipp
Titel: „Die Erfindung der Eleganz — Europa im 17. Jahrhundert und die Kunst des geselligen Lebens“
Herausgeber: Reclam
Taschenbuch: 266 Seiten
ISBN-10: 3150114918
ISBN-13: 978-3150114919