Gabriele Reuter: „Aus guter Familie — Leidensgeschichte eines Mädchens“

Ein junges Mädchen „aus guter Familie“ wird erwachsen und geht den ihr vorbestimmten Weg: Sie übernimmt fraglos die von der Gesellschaft für Mädchen und Frauen festgelegten Regeln; sie schlüpft in die Rolle der gehorsamen Tochter, der zukünftigen Braut und Mutter. Sie folgt den Erwartungen, die an junge Frauen aus gutbürgerlichen Verhältnissen in der Gesellschaft der wilhelminischen Zeit gestellt werden; sie folgt dem vorgezeichneten Weg, der sie — stellvertretend für viele ihrer Zeit- und Leidensgenossinnen — geradewegs ins Unglück führt, weil jene Ziele und Erwartungen eben nicht ihre eigenen sind, sondern etwas von außen Kommendes.

In Anbetracht der literaturhistorischen Bedeutung dieses Romans widerstrebt es mir, von einer „Coming-of-Age“-Geschichte zu sprechen, aber eigentlich ist „Aus guter Familie“ von Gabriele Reuter genau das: die Geschichte einer heranwachsenden Bürgerstochter in der wilhelminischen Zeit, die stets die Erfüllung ihrer (gesellschaftlichen / moralischen) Pflicht in den Mittelpunkt ihres Lebens stellt — und damit trotz aller Zweifel bereitwillig auf die Verfolgung ihrer eigenen Ziele verzichtet.

Die Entwicklungsgeschichte von Agathe Heidling erinnert nicht zufällig an Effi Briest von Theodor Fontane; beide Romane erschienen nahezu zeitgleich im Jahr 1895, und beide Geschichten stellen junge Frauen der Zeit in den Mittelpunkt der Handlung. Wie wir alle aus unserer Schullektüre noch wissen (sollten), endet die Geschichte von Effi Briest tragisch; sie stirbt, verlassen von Mann und kleiner Tochter, in ihrem Elternhaus.  Und auch Agathe Heidling, die Protagonistin dieses Romans von Gabriele Reuter, wird am Ende in eine Nervenheilanstalt eingeliefert und ist nach dem Aufenthalt nur noch ein Schatten ihrer selbst.

„Aus guter Familie“ war seinerzeit ein Bestseller; Theodor Fontane, Thomas Mann, Lou Andreas-Salomé und andere Schriftsteller-Kollegen lobten die junge Schriftstellerin; selbst Victor Klemperer und Sigmund Freud äußerten sich anerkennend. Freud nannte Reuter eine „feinsinnige Beobachterin“, ihr Roman diente ihm wie viele weitere literarische Texte als ein Zugang zur menschlichen Innenwelt und ihren Mechanismen. „Aus guter Familie“ war ihm ein Buch, „welches die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung von Neurosen verrät“ — und „dies zur Zeit, als es noch kaum eine Psychoanalyse gab“!

Ebenfalls im Jahr 1895 gründete Minna Cauer ihre Zeitschrift „Die Frauenbewegung“, die sich als eines der ersten Medien für die Rechte von Frauen einsetzte. Ende des 19. Jahrhunderts entstand auch in Deutschland eine Bewegung, welche die gesellschaftlichen Normen und tradierten Rollenverteilungen von Mann und Frau immer öfters in Frage stellte. Während die politische Stoßrichtung Frauenbewegung laut der Erinnerungen von Gabriele Reuter noch keine Bedeutung für die Entstehung des Romans hatte, übte die Autorin in ihrer typologischen Beschreibung des Lebenswegs einer jungen Frau in dieser Zeit durchaus eine deutliche Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und den sich daraus für Frauen ergebenden sozialen Zwängen.

Zur Entstehungszeit des Romans befinden wir uns literaturgeschichtlich im Zentrum der „Klassischen Moderne“. Frauenfiguren — oftmals tragischer Natur — sind damals ein beliebtes Sujet literarischer Texte: ob die „Salomé“ von Oscar Wilde, „Nana“ von Émile Zola oder „Nora“ von Henrik Ibsen, Frank Wedekinds „Lulu“, Alexandre Dumas´ „Kameliendame“ oder eben auch die bereits genannte „Effi Briest“ von Theodor Fontane.

Die literarische Frau jener Zeit bewegte sich meist zwischen den Polen „femme fatale“ und „Femme fragile“; wobei Agathe Heidling  eher zur zweiten Kategorie der zerbrechlichen Frauenfiguren zu zählen ist.

Bereits in jungen Mädchenjahren wird Agathe angewiesen, sich stets so zu verhalten, wie man es von ihr, einer braven und gottesgläubigen Bürgerstochter, erwartet: „Liebe, – Liebe – Liebe sei dein ganzes Leben — aber die Liebe bleibe frei von Selbstsucht, begehre nicht das ihre.“ Und zuvor: „Bildung ist nicht zu verachten — doch hüte dich, mein Kind, vor der modernen Wissenschaft, die zu Zweifeln, zum Unglauben führt. Zügele deine Phantasie, dass sie dir nicht unzüchtige Bilder vorspiegele!“ — Was hier der Pastor Kandler seinen Konfirmandinnen predigt, gilt im weiteren Sinne als Regelwerk für den vorgezeichneten Lebensweg der jungen Mädchen.

Doch die Natur fordert ihr Recht, und die Pubertät erzeugt unbekannte Gefühle, die zu unterdrücken sich Agathe nach Kräften bemüht, allerdings erfolglos: „Plötzlich, nach kurzer Zeit, kam sie wieder zur Besinnung, geweckt von einem großen, brennenden Sehnsuchtsgefühl, welches ihr ganz fremd, ganz neu und schreckenerregend und doch entzückend wonnig war, so dass sie sich ihm einen Augenblick völlig hingab.“

Die Rede ist von ihrem Vetter Martin und den zarten Gefühlen, welche Agathe zunächst für ihn empfindet. Doch die Geschichte geht weiter, nimmt einen völlig andern Verlauf, der hier nicht verraten werden soll, und endet — wie bereits oben angedeutet — tragisch.

Wer gerne die Frauengeschichten von Fontane liest (oder gelesen hat), wird an Gabriele Reuters Roman viel Freude haben. Das Lesevergnügen dieses spannenden Entwicklungsromans wird zudem durch die hochwertige Ausstattung des im Reclam-Verlag erschienenen Buches (Hardcover mit Lesebändchen) noch gesteigert.

Die Charaktere werden psychologisch komplex gezeichnet und gewinnen dank introspektiver Beschreibungen an Authentizität. Ähnlich wie bei Fontane wird auch bei Gabriele Reuter die Handlung vor allem durch die Entwicklung der Figuren und ihre Interaktionen angetrieben. Jedoch anders als bei Fontane sind bei Reuter die Figuren nicht in einem exakt zu rekonstruierenden geographischen Raum verortet; Ortsnamen werden meist nur angedeutet, was der Geschichte jedoch nicht zum Nachteil gereicht; denn die Handlung wird vor allem durch die lebendigen Dialoge vorangetrieben.

Dem Reclam-Verlag verdanken wir die Wiederentdeckung dieser nahezu vergessenen Schriftstellerin aus der Zeit der „Klassischen Moderne“; damals gehörte Gabriele Reuter zum engeren Kreis der wichtigsten „Modernen“. Die Neuauflage von „Aus guter Familie“ ist ein erster Schritt zur Wiederentdeckung und späten Würdigung einer der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen der Zeit um 1900.

 

 

Autor: Gabriele Reuter
Titel: „Aus guter Familie — Leidensgeschichte eines Mädchens“
Herausgeber: Reclam
Gebundene Ausgabe: 270 Seiten
ISBN-10: 3150114969
ISBN-13: 978-3150114964