Anthony Bale: „Reisen im Mittelalter — Unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern“

Es ist gut möglich, dass unsere Vorstellungen vom Mittelalter als einem dunklen Zeitalter, in dem die Menschen ein gottesfürchtiges und rückständiges Leben führten, nicht richtig sind. Das Mittelalter war wahrscheinlich deutlich bunter und vielfältiger, als uns die alten Schulbücher glauben machen. Dennoch war der Glaube die zentrale Perspektive des mittelalterlichen Menschen und beeinflusste fundamental seine Sicht auf die Welt. Ein Aspekt, der lange von der Mittelalter-Forschung vernachlässigt wurde, waren die Mobilität und das Reisen in jener Phase der Menschheitsgeschichte.

Das Reisen im Mittelalter war eine faszinierende, wenn auch gefährliche Angelegenheit. Während heute Flugzeuge, Züge und Autos unsere Fortbewegung bequem und schnell machen, mussten die Menschen im Mittelalter viele Herausforderungen meistern. Pilger, Ritter und Abenteurer hatten unterschiedliche Gründe zu reisen, und jede Gruppe brachte ihre eigenen Besonderheiten und Vorbereitungen mit sich.

Pilgerreisen waren im Mittelalter von großer religiöser Bedeutung. Menschen pilgerten zu heiligen Stätten wie Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela, um Buße zu tun, göttlichen Beistand zu suchen oder schlichtweg ihren Glauben zu vertiefen. Eine Pilgerreise erforderte intensive Vorbereitungen. Pilger packten nur das Nötigste ein: ein einfaches Gewand, einen Hut als Sonnenschutz, einen Pilgerstab und eine Muschel, das Symbol der Pilger. Oft nahmen sie auch ein kleines Lederbeutelchen mit, um Almosen zu sammeln. Bevor sie aufbrachen, suchten sie oft den Segen eines Priesters, um göttlichen Schutz für die Reise zu erbitten.

Pilger reisten meist zu Fuß, manchmal auf dem Rücken eines Esels oder Pferdes, wenn sie es sich leisten konnten. Die Wege führten durch dichte Wälder, über steinige Berge und durch gefährliche Sümpfe. Sie übernachteten in Klöstern oder Pilgerherbergen, die entlang der Hauptpilgerwege errichtet wurden. Diese Herbergen boten einfachen Schutz vor den Elementen und waren oft kostenlos oder gegen eine kleine Spende zugänglich. Manchmal fanden sie auch Gastfreundschaft bei Bauern, die eine Übernachtung und eine Mahlzeit anboten.

Ein berühmtes Beispiel für eine Pilgerreise ist die Reise des mittelalterlichen Schriftstellers Geoffrey Chaucer, der in den „Canterbury Tales“ die Geschichten von Pilgern erzählt, die nach Canterbury reisen. Diese Geschichten bieten einen lebendigen Einblick in die Vielfalt der Menschen und die Herausforderungen, denen sie begegneten.

Aber auch Ritter reisten im Mittelalter, oft aus unterschiedlichen Gründen: Kriegszüge, Turniere oder diplomatische Missionen. Ihre Reisen waren oft aufwendiger und gefährlicher als die der Pilger, denn sie mussten sich nicht nur gegen die Elemente, sondern auch gegen Feinde und Räuber verteidigen. Ein Ritter musste umfangreiche Vorbereitungen treffen. Neben seiner Rüstung und Waffen benötigte er auch ein robustes Pferd. Oft begleitete ihn ein Gefolge aus Knappen, Dienern und manchmal auch einem Kaplan. Der Ritter packte Vorräte wie getrocknetes Fleisch, Brot und Wein ein, sowie Zelte und andere Ausrüstungsgegenstände für das Lagerleben.

Ritter reisten meist zu Pferd, was ihnen eine größere Reichweite und Geschwindigkeit verlieh. Die Reise war jedoch anstrengend und gefährlich. Banditen lauerten oft auf den weniger bewachten Wegen, und feindliche Ritter oder Soldaten konnten jederzeit angreifen. Eine berühmte Episode aus der Geschichte der Kreuzzüge ist die Reise von Richard Löwenherz, der trotz vieler Hindernisse und Gefahren erfolgreich das Heilige Land erreichte.

Oft übernachteten Ritter in Burgen oder Festungen, wo sie Schutz fanden und ihre Pferde versorgen konnten. Manchmal kampierten sie auch in Zelten entlang der Route, immer auf der Hut vor möglichen Angriffen. Die Ritter hatten den Vorteil, dass sie aufgrund ihres Standes und ihrer Bewaffnung weniger wahrscheinlich Opfer von Überfällen wurden.

Abenteurer, Händler und Entdecker reisten oft auf der Suche nach neuen Handelsrouten, Schätzen oder Wissen. Ihre Reisen waren oft die gefährlichsten und längsten, führten sie doch häufig in unbekannte und unerforschte Gebiete. Die Vorbereitung einer solchen Reise war besonders umfangreich. Abenteurer mussten detaillierte Karten studieren, Routen planen und genügend Vorräte und Handelswaren einpacken. Sie reisten oft in Karawanen oder begleiteten Handelszüge, um sich gegen Gefahren zu schützen. Ein berühmtes Beispiel ist Marco Polo, der aus Venedig nach China reiste und dabei viele unbekannte Regionen durchquerte.

Auch die Abenteurer reisten entweder zu Fuß, zu Pferd oder per Schiff. Seereisen waren besonders riskant, da die Schiffe klein waren und die Navigation rudimentär. Die Reisen dauerten oft monatelang, über die offene See und ohne Sicht auf Land.

An Land boten Gasthäuser, Tavernen und Klöster Unterkunft. In abgelegenen Gebieten schlugen die Abenteurer oft Lager auf und versuchten, Kontakte mit den Einheimischen zu knüpfen. Ein bemerkenswertes Beispiel ist Ibn Battuta, der auf seinen Reisen durch Afrika, Asien und Europa zahlreiche fremde Kulturen und Völker kennenlernte.

Das Reisen im Mittelalter war alles andere als einfach. Pilger, Ritter und Abenteurer mussten sich auf gefährliche und oft beschwerliche Reisen begeben, die nicht nur körperliche Ausdauer, sondern auch großen Mut erforderten. Ihre Reisen waren geprägt von langen Fußmärschen, harten Nächten in provisorischen Lagern und der ständigen Gefahr durch Räuber oder feindliche Krieger. Doch trotz all dieser Schwierigkeiten brachen sie auf, getrieben von Glauben, Pflichtgefühl oder der Suche nach neuen Horizonten. Diese Reisen prägten nicht nur ihre eigene Lebensgeschichte, sondern auch die Geschichte der Menschheit, indem sie den Austausch von Kulturen, Ideen und Waren förderten.

Der britische Mittelalter-Experte Anthony Bale lehrt am Birkbeck College der Universität London. Bereits 2011 erhielt er den Philip Leverhulme Prize für herausragende junge Wissenschaftler, und 2019 war er Fellow in Harvard.

Für dieses unterhaltsame und spannend geschriebene Buch begab sich Bale selbst auf die Reise, folgte den Spuren der Reisenden, hat in Klöstern uralte Reiseberichte entziffert und auf seinen Routen bis an die Enden der damaligen Welt am eigenen Leib erfahren, wie beschwerlich das Reisen im Mittelalter gewesen sein muss.

Alte Reiseberichte sind „zwangsläufig sehr subjektiv“, schreibt der Autor, „weil Reisen oft mit Begegnungen mit dem Unbekannten verbunden sind und weil die Autoren ihren eigenen kulturellen und individuellen Hintergrund und damit alle Irrtümer und negativen Vorurteile über andere mitbringen“. Diese Erfahrung hat bestimmt jeder von uns schon selbst machen können, wenn er in einen fremden Kulturkreis gereist ist und seine eigene Unwissenheit und Voreingenommenheit reflektiert hat. Reisen ist immer eine Begegnung mit dem Unbekannten, demgegenüber wir uns positionieren müssen, was am Ende dazu führt, dass man das Fremde (und auch sich selbst) auf Reisen besser kennenlernt. Reisen ist eben „mit viel mehr verbunden als nur mit der Bewegung durch den Raum“.

Anthony Bale zeigt in vierzehn Kapiteln, welche Abenteuer auf die mittelalterlichen Reisenden warteten, und beschreibt, was sie jeweils auf ihren Wegen durch die Welt erlebten. Der Autor lädt uns ein, „in Vorstellungswelten einzutauchen und ferne Orte kennenzulernen, vermittelt durch die Schriften dieser Reisenden, die unsere Vorstellungen von Menschlichkeit, Erfahrung und Wissen sowohl erschüttern als auch erweitern“ werden.

Unsere Reisen in diesem Buch führen uns von Großbritannien über Deutschland, Venedig und das Mittelmeer bis nach Konstantinopel, Babylon, Jerusalem, weiter nach Afrika, nach Persien und Indien, auf Wegen entlang der Seidenstraße bis ans Ende der bekannten Welt auf der Suche nach ihren Antipoden. — Es sind aber vor allem Reisen, die Menschen vor vielen hundert Jahren auf sich genommen und aufgeschrieben haben; und es sind am Ende — so fern und fremd uns die mittelalterliche Welt auch erscheinen mag — immer auch Reisen zu uns selbst.

 

 

 

Autor: Anthony Bale
Titel: „Reisen im Mittelalter — Unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern“
Herausgeber: S. FISCHER
Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
ISBN-10: 3103971443
ISBN-13: 978-3103971446