Christoph Poschenrieder:“Die Welt ist im Kopf“

Was für ein Debüt! Wenn ein Erstlings-Roman bei einem renommierten Verlag wie Diogenes erscheint, ist man geneigt, den Titel etwas wohlwollender in die Hand zu nehmen. Aber solch eine zuvorkommende und schonende Behandlung hat Christoph Poschenrieder überhaupt nicht nötig.

„Die Welt ist im Kopf“ liest sich wie ein rasanter Spielfilm über die Zeit um 1818 in Venedig. Dort ist zu jener Zeit richtiig was los. Lord Byron, der Popstar jener Zeit, logiert in der Lagunenstadt, die Catalani singt am Fenice ihre Arien, und der junge Arthur Schopenhauer hat sich mit einem Empfehlungsschreiben des alten Goethe auf den Weg nach Italien gemacht. Er hat soeben sein philosophisches Hauptwerk, „Die Welt als Wille und Vorstellung“ bei Brockhaus in Druck gegeben und wartet nun in Italien auf die positiven Rezensionen aus Deutschland. Die bleiben jedoch aus, allein von Goethe hört er, dass er das Werk mit Interesse läse. Brockhaus befürchtete zu Recht, dass er das umfangreiche und in einer fremdartigen Sprache geschriebene Werk nur schwer verkaufen könne; der Rest der Auflage sei Makulatur.

Wir kennen Schopenhauer als den Pessimisten, als den grantelnden Alten, der keinen Hehl aus seinem Weiberhass und seiner pessimistischen Weltsicht machte. Aber es gab auch einen jungen, sehr gut situierten und weltgewandten Schopenhauer. Mit ihm reisen wir in der Postkutsche nach Venedig. Schon bald wird er auffällig, denn es ist nicht seine Art, sich von Anderen gängeln zu lassen.Wenn schon, dann sei er lieber selbst derjenige, welche der Welt seine Vorstellungen aufdrücke. Als er mit dem Studenten Fidelis von Morgenrot am Semmering einem ausgerutschten Gaul wieder auf die Beine hilft und den Postillion einen Narren schilt, Fidelis dann auf die Frage, wer sie denn seien, dass sie solch einem Tier nicht die Peitsche sondern ihre Hilfe gäben, sagte, sie seien Brahmanen, machte diese unbekannte Bezeichnung schnell diese Runde und wurde von österreichischen Geheimagenten weiter getragen bis ans Ohr des Fürsten Metternich. Fortan galten die „Brachmanen“, wie man sie vorläufig nannte, als eine umstürzlerische Splittergruppe, und Arthur Schopenhauer, Doktor der Philosophie wurde steckbrieflich gesucht.

Er trägt das „Oupnek’hat“, das weise Buch der Upanischaden, in einer ledergebundenen Ausgabe ständig bei sich. Schopenhauers Philosophie ist auch von der indischen Philosophie beeinflusst. Mit dem freiheitsliebenden Studenten Fidelis kann er sich darüber unterhalten und die Gedanken treiben lassen, wie eine bessere Welt aussehen könnte.

Schopenhauer ist auf dem Weg nach Italien, während sein uneheliches Kind im Bauch von Karoline, der Tochter eines Buchbinders, wächst. Davon weiß er nichts, seine Schwester Adele wird sich der Sache annehmen und sie im Sinne des Standesdenkens zu regeln wissen, später regelt sich die Angelegenheit jedoch auf natürliche Weise. Dies nur ein kleiner Nebenstrang der vielschichtigen und wundervoll komponierten Geschichte, die Poschenrieder rund um die berühmten Protagonisten und ihre zwar nicht berühmten, aber nicht weniger bunten Mitspieler strickt.

Der junge Arthur ist bereits ganz der Philosoph; er hat seine Lehre im Kopf und blickt auf die Welt als ein Produkt seiner Vorstellung. Die Sonne existiert nicht einfach so, sondern sie existiert, weil mein Auge auf sie schaut und ihr Licht auf meine Netzhaut fällt. Die Welt ist meine Vorstellung. Und sie ist auch mein Wille, mehr actio als reactio, schöpferisches Gestaltungsfeld für das Subjekt.

In Venedig tobt das Leben. Es ist die Zeit der Romantik. In Deutschland malt ein Caspar David Friedrich seine träumerischen Landschaften. In Venedig winkt die Freiheit. Byron ist der poetische Superstar der Zeit. Aber er ist müde geworden, seine stürmischen Jahre sind vorüber, die ewigen Affären wiederholen sich, und er stellt sich selbst gegenüber fest: „Mit dem Konkubinat bin ich durch.“ Gleichzeitig pfeift ganz Venedig „Lascia la spina„, jene Arie, die die Catalani so erfolgreich in die Herzen der Venezianer gesungen hat. Die Catalani, auch sie eine Operndiva, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hat. Und nun der junge Doktor Arthur Schopenhauer aus Deutschland.

Sciope-au-är’e? – Come si bukstabhire?“ fragen sich die Venezianer bei dem schwierigen Namen; und weil wir in Venedig sind, verpassen sie Schopenhauer schon bald den Spitznamen „Dottore s’ciopòn„, nach einer bestimmten Gondel-Art. Später im Buch lernt Schopenhauer selbst das Gondelfahren, doch zuvor lernt er die Stadt kennen und lässt sich lieber von Ciccio, einem kleinen Hund, durch die Gassen führen als von einem der aufdringlichen Cicerones, die die Touristen für Geld durch Venedig führen.

Immer ist Schopenhauer auch ein Beobachter seiner selbst und des Geschehens um ihn herum. Dieser Wesenszug scheint dem großen deutschen Philosophen schon damals eigen gewesen zu sein:

Er wäre nicht der Philosoph gewesen, der allen verkündet hatte, nur aus dem Buch der Welt zu lesen (anstatt die Welt aus hohlen Begriffen abzuleiten), wenn er das Geschehen und das Geschehene nicht – wie gleichsam neben sich gestellt – beobachtet hätte.“ – Er pendelte also immer zwischen Nähe und Distanz, zwischen Einmischung und Zurückhaltung.

Bei Carlo, dem Wurstmacher, wird der Dottore schnell Stammgast, der vorzüglichen Polenta seiner Mutter widmet er einen Stern, die Stella Polenta, und schließlich findet er auch noch die Liebe in der glutäugigen Nichte Teresa. Teresa wird Arthurs Dulcinea, und als einfaches Mädchen aus Murano hat sie keine Scheu, ihren Arturo mit der Leichtigkeit des liebenden Herzens über sein dickes Buch zu befragen. „Die Welt ist im Kopf“ fasst Schopenhauer seine Philosophie in einem Satz zusammen, und teresa versteht besser als jeder Philosophie-Professor, ihm die richtigen Fragen zu stellen.

Auch Byron hat seine Teresa, allerdings eine verheiratete Frau aus den oberen Kreisen. Die Liebe ist stärker als die Konventionen, aber am Ende reist Byron aus Venedig ab, ohne Teresa wieder zu sehen.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der turbulenten und umfangreichen Geschichte über Schopenhauers Zeit in Venedig. Schopenhauer und Byron haben sich wahrscheinlich nie in Venedig getroffen; allein eine Begebenheit ist historisch bewiesen. Als Arthur mit seiner Geliebten am Lido spazieren ging, soll Byron auf einem Pferd an den beiden vorbei galoppiert sein, was seine Geliebte wohl derart in Verzückung geraten ließ, dass Schopenhauer auf jede weitere Annäherung an den berühmten Engländer verzichtete, „aus Angst vor Hörnern„, wie er im Alter zugab. Aber es ist die Freiheit des Künstlers, doch eine Begegnung der beiden Berühmtheiten zu arrangieren. Der Hinkende (Byron) trifft auf den Schwerhörigen (Schopenhauer), und sie liefern sich einen faszinierenden Schlagabtausch, wie ihn auch Oscar Wilde nicht besser hätte schreiben können.

Poschenrieders Roman sprudelt über von einer lebensfrohen Frische und einem bezaubernden Sprachwitz. Der Autor, der nach eigenen Angaben vor allem Bedienungsanleitungen für Software schreibt, allerdings praktischerweise auch auf ein Philosophie-Studium und eine solide journalistische Ausbildung an der Columbia University in New York zurück greifen kann, verfügt über eine traumhafte Sprachsicherheit. Der Leser fühlt sich von der ersten Minute an wie ein Reisebegleiter Schopenhauers.

Der Autor versteht es hervorragend, die gestelzte Sprache der Romantik mit Leben zu füllen und unserem diffusen Bild von jener Epoche von seinem Grauschleier zu befreien. 1818, das ist fast zweihundert Jahre her, aber man gewinnt den Eindruck, dass damals mehr los war als heute. Die Dynamik der Charaktere und die Aufbruchstimmung jener Zeit werden greifbar, wenn Poschenrieder seine Protagonisten frei miteinander spielen lässt. Diese Freude am Spielen mit Worten und mit dem Handlungsverlauf merkt man dem Autor an.

Der Roman steckt voller sprachlicher Perlen und weiser Erkenntnisse. Zitate aus Schopenhauers Werk reihen sich an die Zeilen eines venezianischen Ohrwurms („La note xe bela„), wer aufmerksam liest, erwirbt sich einen guten Packen Lebensweisheit. Natürlich macht Poschenrieders Roman auch Appetit auf Venedig, die ewig faszinierende und absaufende Stadt in der Lagune.

„Die Welt im Kopf“ scheint wie im Fieber geschrieben, mit einem rasanten und weit gewölbten Spannungsbogen, der seine ganze aufgestaute Spannung pünktlich zum Ende des Buches in einem Feuerwerk der Höhepunkte entlädt. Für einen arrivierten Autor wäre „Die Welt ist im Kopf“ ein sehr guter und gelungener Roman; jedoch als Erstlingswerk eines neuen Autors ist das Buch ein Meisterwerk.

Hut ab, Herr Poschenrieder!

Lesen Sie auch das Interview, dass kulturbuchtipps mit Christoph Poschenrieder auf der Leipziger Buchmesse 2010 führte.

Autor: Christoph Poschenrieder
Titel: „Die Welt ist im Kopf“
Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Verlag: Diogenes
ISBN-10: 3257067410
ISBN-13: 978-3257067415

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