Andrea Löw: „Deportiert. ‚Immer mit einem Fuß im Grab‘ — Erfahrungen deutscher Juden“

Die Deportationen jüdischer Mitbürger und anderer stigmatisierter Gruppen während der Zeit des Nationalsozialismus stellen eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte dar. Diese systematische Verfolgung, Ausgrenzung und Vernichtung begann mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und fand ihren schrecklichen Höhepunkt während des Zweiten Weltkriegs.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann eine schrittweise Entrechtung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung sowie anderer Minderheiten wie Roma und Sinti, Homosexueller, politischer Gegner und Menschen mit Behinderungen. Gesetzgebungen wie das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933 und die Nürnberger Gesetze von 1935 stellten die rechtliche Grundlage für die systematische Diskriminierung dar. Jüdische Bürger wurden aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen, verloren ihre Arbeitsstellen, und es wurden ihnen grundlegende Bürgerrechte entzogen.

Die Deportationen begannen systematisch ab 1941. Jüdische Menschen, Roma und Sinti sowie andere verfolgte Gruppen wurden in Viehwaggons zu Konzentrationslagern wie Auschwitz, Treblinka und Sobibor transportiert. Die Deportationen bedeuteten für die meisten Menschen eine Fahrt in den sicheren Tod. Bereits die Bedingungen während der Transporte waren unmenschlich; viele starben bereits auf dem Weg aufgrund der extremen Enge, der fehlenden sanitären Einrichtungen und der unzureichenden Versorgung mit Nahrung und Wasser.

In den Konzentrations- und Vernichtungslagern erreichte das Grauen seinen Höhepunkt. Ankommende Menschen wurden selektiert: Ein kleiner Teil wurde zur Zwangsarbeit gezwungen, die Mehrheit jedoch sofort in den Gaskammern ermordet. Die Bedingungen für die Zwangsarbeiter waren ebenfalls unmenschlich; sie litten unter extremen Misshandlungen, Hunger und Krankheiten, und die Lebenserwartung war entsprechend kurz. In den Lagern fanden auch pseudomedizinische Experimente statt, die unvorstellbares Leid verursachten.

Das hier vorliegende Buch der Historikerin Andrea Löw wählt ganz bewusst einen Ausschnitt aus der Geschichte der Ghettos und Lager im Osten. Im Mittelpunkt stehen die Erfahrungen und Reaktionen deutschsprachiger Jüdinnen und Juden, die in jene Lager „weiter im Osten“, nach Riga und Minsk, verschleppt wurden.

Die Autorin versteht ihre Publikation als Fortsetzung jener vor einigen Jahren von der Historikerin Marion Kaplan beschriebenen Wahrnehmungen und Reaktionen der Betroffenen in Bezug auf ihre Verfolgung im Dritten Reich; während Kaplans Studie mit dem Beginn der Deportationen endet, setzt Löws Buch gerade mit diesen ein: „Dieses Buch erzählt die Geschichte der Erwartungen, Erfahrungen, Interpretationen und Reaktionen der Menschen, die gegen ihren Willen von ihrem Zuhause ‚nach Osten‘ verschleppt wurden.“

Aus umfangreichen Quellen, die persönliche Dokumente, hunderte von Briefen, Postkarten, Berichten, Tagebücher, Interviews und Aussagen bestehen, die von der Autorin aus zahlreichen Archiven in vielen Ländern zusammengetragen wurden, entsteht eine große Textcollage aus Zeitdokumenten, welche die Gewalt dieser Deportationswelle und die Fassungs- und Machtlosigkeit der Betroffenen spürbar macht.

„Viele von ihnen verstanden sich als Deutsche, Österreicher und in manchen Fällen als Tschechen, einige waren längst zum Christentum übergetreten.“ Und doch wurden sie durch ihre rassische Abstammung als „jüdisch“ identifiziert und den nationalsozialistischen Verfolgungen ausgesetzt.

Löw spricht im Zusammenhang mit den Erfahrungen der Deportation für die Betroffenen zurecht von einem „absoluten Zivilisationsbruch“. Die Deportation bedeutete nicht nur den Verlust der gewohnten Lebenswelt und aller materiellen Güter, sondern auch die Verschleppung in eine „fremde und mörderische Welt“, in der das eigene Leben der Willkür des Machtapparats ausgesetzt war.

Auch in den Ghettos und Lagern von Riga und Minsk, auf die sich Andrea Löw in diesem Buch konzentriert, wartete auf die Deportierten in der Regel gleich nach der Ankunft der Tod. Die ebenfalls bis kurz vor Kriegsende andauernden Deportationen nach Theresienstadt und Auschwitz werden von der Autorin bewusst ausgenommen, da sich die Bedingungen für die Deportierten in diesen Fällen deutlich von den Deportationen in jene weiter östlich gelegene Lager unterschieden.

Wir alle kennen die Stolpersteine, die vor den Häusern in den Boden eingelassen sind, wo mal Jüdinnen und Juden gelebt haben. Auf vielen dieser Gedenksteine steht als Deportations- oder Todesort schlicht „Minsk“ oder „Riga“. „Hinter jedem einzelnen Stolperstein steht eine individuelle Geschichte von deportierten Menschen, wie sie in diesem Buch erzählt werden.“

Aus diesen vielen Hunderten von persönlichen Aufzeichnungen hat Andrea Löw eine kollektive Erzählung des Grauens geschaffen, das nicht nur das Leid der betroffenen Menschen spürbar macht, die einst ganz normale Mitmenschen waren — Freunde, Nachbarn, Bekannte; jene Deportationen und die systematische Vernichtung unter dem Nationalsozialismus sind auch für unsere Gegenwart ein Mahnmal für all jene Grausamkeiten, die aus Hass, Ausgrenzung und fanatischem Nationalismus erwachsen können. Sie erinnern uns daran, die Menschenrechte und die Würde jedes Einzelnen zu schützen und aus der Geschichte zu lernen, um solche Verbrechen nie wieder zuzulassen.

 

 

Autor: Andrea Löw
Titel: „Deportiert. ‚Immer mit einem Fuß im Grab‘ — Erfahrungen deutscher Juden“
Herausgeber: S. FISCHER
Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
ISBN-10: 3103975422
ISBN-13: 978-3103975420