W. Daniel Wilson: „Goethe und die Juden — Faszination und Feindschaft“

Das Verhältnis Johann Wolfgang von Goethes zu den Juden war von Komplexität und Widersprüchen geprägt, die ein spannungsreiches und interessantes Bild zeichnen. Goethe, einer der bedeutendsten deutschen Dichter und Denker, lebte in einer Zeit des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels, in der die jüdische Emanzipation in Deutschland erst langsam voranschritt. Seine Einstellungen gegenüber den Juden spiegeln diese Dynamiken wider und bieten einen tiefen Einblick in die Geisteswelt und die sozialen Strukturen seiner Epoche.

Der emeritierte Germanistik-Professor W. Daniel Wilson lehrte von 1983-2005 in Berkeley und von 2006-2019 an der Universität London. Ohne Übertreibung darf man Wilson zu den international größten Goethe-Experten rechnen; seine zahlreichen Arbeiten über Goethes Leben und Werk haben sich auch immer wieder mit Themen beschäftigt, die von der Fachwelt vernachlässigt wurden — so befasste sich sein Buch „Goethe Männer Knaben“ mit Goethes liberalen Ansichten zur Homosexualität und „Das Goethe-Tabu“ mit Goethes amtliches Wirken im Kontext der Menschenrechte seiner Zeit.

„Goethe und die Juden“ greift nun ein Thema auf, das besonders heikel ist: Wilson schreibt in seinem Vorwort, dass er selbst lange Zeit einen weiten Bogen um das Thema gemacht hat. Unter anderem wollte er auf keinen Fall modernen Antisemiten mit seinem Buch über Goethes Antisemitismus argumentative „Munition“ liefern … Fachkollegen, denen er von seinem Vorhaben erzählte, konnten ihm seine Bedenken ausreden; in der Tat ist dieses akribisch recherchierte und nach allen Seiten wissenschaftlich abgesicherte Buch über Goethes ambivalentes Verhältnis zum Judentum alles andere als eine Steilvorlage für den modernen Antisemitismus, sondern ein leidenschaftliches Plädoyer für eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit dem Klassiker der deutschen Literatur.

Goethes persönliche Begegnungen mit Juden und seine literarischen Darstellungen von ihnen sind vielschichtig und oft ambivalent. Einerseits pflegte Goethe freundschaftliche Beziehungen zu prominenten Juden seiner Zeit. Besonders hervorzuheben ist seine Freundschaft mit dem Bankier und Kunstmäzen Jacob Herz Beer sowie mit dem Schriftsteller und Philosophen Moses Mendelssohn. Mendelssohn, ein bedeutender Vertreter der jüdischen Aufklärung, beeinflusste Goethe intellektuell und trug zu seinem Verständnis der jüdischen Kultur und Religion bei. Diese Beziehungen zeigen, dass Goethe in der Lage war, individuelle Juden als gleichwertige Gesprächspartner und Freunde zu schätzen.

Andererseits finden sich in Goethes Werken und Äußerungen auch stereotypische und negative Darstellungen von Juden. Diese reflektieren die vorherrschenden Vorurteile und antisemitischen Tendenzen seiner Zeit. In einigen seiner Schriften, wie etwa in den „West-östlichen Divan“, nutzt Goethe antisemitische Klischees und beschreibt Juden auf eine Weise, die sie als fremdartig und moralisch minderwertig erscheinen lässt. Solche Darstellungen spiegeln die tief verwurzelten gesellschaftlichen Vorurteile wider und verdeutlichen, dass Goethe trotz seiner fortschrittlichen Ansichten nicht völlig frei von den gängigen Stereotypen war.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von Goethes Verhältnis zu den Juden ist seine Rolle als Staatsmann und sein Einfluss auf die Politik. Während seiner Tätigkeit in Weimar setzte sich Goethe für die rechtliche Gleichstellung der Juden ein, wenngleich seine Bemühungen oft halbherzig und pragmatisch motiviert waren. Er erkannte die wirtschaftlichen und kulturellen Beiträge der jüdischen Gemeinschaft an und unterstützte Maßnahmen, die darauf abzielten, die Lebensbedingungen der Juden zu verbessern. Dennoch blieb seine Haltung ambivalent, da er zugleich die Assimilation und die Aufgabe der jüdischen Identität als notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche Anerkennung sah.

Goethes Verhältnis zu den Juden kann nicht losgelöst von den historischen und kulturellen Kontexten seiner Zeit betrachtet werden. Die Aufklärung und der Humanismus, die Goethe maßgeblich prägten, boten zwar theoretisch die Grundlage für Toleranz und Gleichberechtigung, aber die praktischen Umsetzungen dieser Ideale waren oft unzureichend. Goethe selbst war ein Produkt seiner Zeit, dessen Ansichten und Handlungen sowohl fortschrittliche als auch rückschrittliche Elemente enthielten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Verhältnis Goethes zu den Juden ein Spiegelbild der Ambivalenzen und Spannungen seiner Zeit darstellt. Es zeigt, wie ein großer Denker und Künstler in den Widersprüchen seines kulturellen und sozialen Umfelds verstrickt war. Goethes persönliche und literarische Auseinandersetzung mit dem Judentum bietet somit einen faszinierenden Einblick in die Komplexität menschlicher Beziehungen und die Herausforderungen des interkulturellen Dialogs in einer sich wandelnden Gesellschaft.

Wilsons Buch ist spannend und kenntnisreich geschrieben, versammelt eine Fülle neuer Einblicke und Erkenntnisse in das Leben und Werk von Goethe und lädt die Leser ein zu einer packenden und lehrreichen Lektüre sowie zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem der bedeutendsten Klassiker der deutschen Hochkultur.

 

 

Autor: W. Daniel Wilson
Titel: „Goethe und die Juden — Faszination und Feindschaft“
Herausgeber: C.H. Beck
Gebundene Ausgabe: 351 Seiten
ISBN-10: 3406814948
ISBN-13: 978-3406814945