Michael Schmidt-Salomon: „Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild — und wem wir es verdanken“

„Ein Kopf denkt nie allein“. Oder noch platter formuliert: „Von nichts kommt nichts.“ Selbst die klügsten Denker erarbeiten sich ihre Erkenntnisse nicht im luftleeren Raum, sondern greifen auf die Erkenntnisse früherer Denker zurück. Das kreative Gedankenspiel mit den Ideen der Vorgänger, ihre Kombination oder individuelle Interpretation, ihre Kritik oder gar ihre Verwerfung umschreibt jenen schöpferischen Prozess, durch den Neues geschaffen und unser Weltbild immer wieder neu geformt wird.

Isaac Newton hat diese Tatsache des kreativen Umgangs mit den Erkenntnissen früherer Forscher und Denker sehr treffend beschrieben: „Wenn ich weiter gesehen habe [als andere], so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.“ Ohne jene Riesen, die vor ihm bereits an denselben Problemen der Physik arbeiteten, wäre Newton kaum zu seinen revolutionären Erkenntnissen gekommen.

„Die Evolution des Denkens“ von Michael Schmidt-Salomon ist eine tiefgreifende Analyse, die sich mit der Entwicklung des menschlichen Denkens im Laufe der Geschichte befasst. Der freischaffende Philosoph und Schriftsteller weist gleich zu Beginn dieses Buches darauf hin, dass es ihm nicht darum ging, die „größten Denkerinnen und Denker aller Zeiten“ vorzustellen und dass solche Quantifizierungs-Versuche auch im Grunde völlig sinnlos sind. Denn was sollte es auch bedeuten, wenn Wissenschaftler und Philosophen in einer Art Hitparade gelistet werden? Lässt sich die Leistung eines Denkers gegenüber dem Denken eines anderen in Punkten ausdrücken?

Schmidt-Salomon möchte vielmehr zeigen, dass Denken niemals voraussetzungslos stattfindet, sondern immer auf einem Fundament aufbaut, dessen Erkenntnisse von anderen Denkern stammen: „Kein Werk hat nur einen Schöpfer.“

Zurecht hält der Autor auch nichts davon, dem „Genie-Kult“ zu huldigen und im Angesicht der schöpferischen Leistungen einzelner „Genies“ in Schwärmerei zu verfallen. Es geht ihm vielmehr um die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk jener Denkerinnen und Denker, die er in seinem Buch vorstellt.

Noch eine weitere Frage stellte sich dem Autor, als die Idee zu diesem Buch konkretere Formen annahm: Welche berühmten Denker sollte er auswählen? Denn für alle wichtigen Denker der Menschheitsgeschichte wäre in einem einzigen Buch niemals genügend Platz. Schmidt-Salomon löst dieses Problem auf die einfachste und beste Art: Er trifft eine Auswahl nach seinem persönlichen Geschmack:

Zehn Denkerinnen und Denker werden in diesem schlauen und schön geschrieben Sachbuch mit ihrem Leben und Denken vorgestellt, wobei der Schwerpunkt auf der Vernetzung ihrer Ideen mit dem Denken der Zeitgenossen und ihren Vorgängern liegt. Hierbei ist es ihm wichtig, dass jene Denker nicht als alleinige Urheber ihrer Werke, sondern vielmehr als „letzte Glieder einer langen, komplexen Determinationskette“ verstanden werden, welche die Entstehung dieser Werke erst ermöglicht hat. Sie sind das Ergebnis jenes „sinnfreien Zusammenspiels von Zufall und Notwendigkeit“.

So geht es in diesem Buch eben gerade nicht um die „10 größten Genies der Menschheit“, sondern einfach um „10 Influencer für ein zeitgemäßes Selbstbild“ — um 10 Beispiele unter vielen anderen.

Mit seinem Buch möchte der Autor ein Zeichen setzen gegen die, wie er es nennt, „kulturelle Demenz“ unserer Gegenwart. Jene Demenz, die nicht mehr die kulturellen Hintergründe und Grundlagen unserer Weltbilder kennt, ist gefährlich, denn sie führt zu einer verengten Perspektive, die sich in einer verminderten Flexibilität äußert, und schließlich in eine geringere Ambiguitätstoleranz. Wer nicht mehr um die Komplexität und Dynamik moderner Weltbilder weiß, wird eher zu Dogmatismus neigen; solche Unkenntnis macht obendrein auch anfälliger für Fake News.

Das Schöne an Schmidt-Salomons Büchern ist die Tatsache, dass sie den Leser nicht mit einem übermächtigen wissenschaftlichen Apparat an Anmerkungen und Fußnoten überfordern. Natürlich gibt es auch in diesem Buch einen durchaus umfangreichen Anhang, aber er unterbricht nicht das Lesevergnügen. Man kann den Inhalt dieses Buches also problemlos auch ohne seine Fußnoten verstehen und bei der Lektüre sogar unterhalten werden, was leider im Sachbuch-Bereich immer noch keine Selbstverständlichkeit ist.

Exemplarisch werden hier zehn Bausteine unseres modernen Weltbildes in ihrer komplexen Entstehungsgeschichte präsentiert. Charles Darwin (Evolution), Albert Einstein (Relativitätstheorie) und Marie Curie (Atome) werden flankiert von Alfred Wegener (Plattentektonik) und Carl Sagan (Astronomie); für die Philosophie beschäftigt sich der Autor mit Epikur (Sinn) und Friedrich Nietzsche (Moral), während Karl Marx und Karl Popper maßgeblich den Bereich des Sozialen unseres modernen Weltbildes mitprägten.

Nach dem Ende des Zeiten Weltkriegs wurde die UNESCO, eine Weltorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur von den Vereinten Nationen gegründet. Mit der Ausarbeitung eines Entwurfs ihres ersten Programms wurde der Evolutionsbiologe Julian Huxley beauftragt, um den es im vorletzten Abschnitt des Buches geht.

Im letzten Kapitel wagt Schmidt-Salomon einen Ausblick in die Zukunft unseres Planeten unter dem Einfluss des Menschen. Hier bekommt der Begriff der planetaren Verantwortung im Angesicht der durch den Menschen verursachten Zerstörungen des Planeten eine zentrale Bedeutung. Im Anthropozän entscheidet letztlich der Mensch, ob und wie es mit dem Planeten (und mit seiner eigenen Existenz) weitergehen soll. Schmidt-Salomon konstatiert nüchtern: „Je höher der Technologiegrad einer Zivilisation ist, desto größer ist auch ihr Selbstzerstörungspotenzial.“

Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Im Grunde stellen sich heute in einem globalen Maßstab dieselben Fragen, die sich jeder und jedem von uns auch im eigenen Leben immer wieder stellen: Wie gehe ich mit „Problemen“ um? — Betrachte ich sie als existenzielle Gefahren oder als Chancen für eine Veränderung? Welche Antwort wir unserem Planeten geben, davon wird abhängen, ob und wie wir in Zukunft leben werden.

„Die Evolution des Denkens“ ist ein spannend geschriebenes und lehrreiches Sachbuch über unser modernes Weltbild und seine Entstehungsgeschichten. Ein Buch, das nicht zuletzt auch für jüngere Leser geeignet ist und dessen Lektüre nicht nur unterhaltsam, sondern auch ein gutes Heilmittel gegen die um sich greifende „kulturelle Demenz“ unserer Tage sein kann.

 

 

 

 

 

Autor: Michael Schmidt-Salomon
Titel: „Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild — und wem wir es verdanken“
Herausgeber: Piper
Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
ISBN-10: 3492072623
ISBN-13: 978-3492072625