Der Begriff der Phobie (abgeleitet von Phobos, dem griechischen Gott der Furcht) wurde ursprünglich vor allem für die Symptome einer körperlichen Krankheit verwendet, bis Benjamin Rush, einer der Gründervater der Vereinigten Staaten von Amerika, ihn erstmals auf psychische Erkrankungen anwendete.
Die erfolgreiche Sachbuchautorin und Journalistin Kate Summerscale führt in ihr neues Buch über die bunte und skurrile Welt der Phobien und Manien ein, indem sie Benjamin Rush als ersten nennt, der bereits im Jahre 1786 ein „modernes“ Verständnis von Phobien gebrauchte, indem er deren Symptome nicht auf körperliche Erkrankungen, sondern auf psychische Probleme zurückführte. Hierbei schlug Rush, so die Autorin, „durchaus einen heiteren Ton an“, wenn er die „Heim-Phobie“ als eine Erkrankung beschrieb, die „bevorzugt Herren befalle, die den Zwang verspürten, nach der Arbeit in der Taverne Halt zu machen“ …
Nun ja. — Dass der heitere Benjamin Rush jedoch auch eine dunkle Seite hatte, verschweigt die Autorin. Denn Benjamin Rush war ein Befürworter einer gewaltanwendenden Psychotherapie. Eine solche Haltung war seinerzeit durchaus nicht ungewöhnlich, doch entspricht es aus unserer heutigen Perspektive keineswegs unseren Vorstellungen von einem „modernen“ Blick auf psychische Erkrankungen wie Phobien und Manien. Ebenso hielt er die schwarze Hautfarbe von People of Colour für eine erbliche Krankheit, die er „Negroidismus“ nannte. (…) So weit zum aufgeklärten Blick der amerikanischen Gründungsväter.
Während eine Phobie auch nach heutigem Verständnis eine Angststörung beschreibt, fallen Manien in die Kategorie der Zwangshandlungen. Seit Rush Phobien und Manien vor allem als psychische Phänomene beschrieb, hat sich eine Menge getan. Heute gelten sie als „spektakuläre Spuren unseres evolutionären und persönlichen Werdegangs“, als „Manifestationen verborgener tierischer Instinkte und unterdrückter Sehnsüchte“.
Wovon ist hier die Rede? — Zwangshandlungen und Angststörungen sind heutzutage im DSM-5, dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen aufgelistet, das von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft herausgegeben wird. Wie man sich denken kann, wird die Zahl der gelisteten Störungen immer länger.
Phobien und Manien sind auch gesellschaftliche Phänomene; sie entstehen nicht nur in einem gesellschaftlichen Umfeld, sondern sie dienen auch der Stigmatisierung der Betroffenen. Was schon als „Phobie“ oder „Manie“ bezeichnet wird — und was noch nicht, wird im gesellschaftlichen Diskurs vereinbart. Beispiel: Handelt es sich bei Person A um einen äußerst reinlichen Menschen oder leidet er/sie schon unter einem Waschzwang?
Um dieses Problem einer angemessenen Beurteilung zu lösen, führt das DSM-5 objektive Kriterien auf, die erfüllt sein müssen, um von klinischen Fällen von Phobien und Manien sprechen zu können: Die Angststörungen oder Zwangshandlungen müssen „unangemessen“ und „exzessiv“ sein, bereits sechs Monate oder länger andauern und den Leidensdruck der betroffenen Person so stark erhöhen, dass sie die gefürchtete Situation so sehr meidet, dass es ihr gewohnte Verhalten beeinträchtigt.
Aktuelle Untersuchungen haben gezeigt, dass spezifische Phobien bei Kindern weitaus häufiger auftreten als bei Erwachsenen und dass sich die Zahl der Betroffenen bei älteren Menschen nochmals halbiert. Frauen sind doppelt so häufig von Phobien betroffen als Männer, so dass im Schnitt etwa jede zehnte Frau und jeder zwanzigste Mann unter Angststörungen leidet.
Viele Phobien sind adaptiv, das heißt, sie sind lediglich Überreaktionen von eigentlich „gesunden“ Anpassungen an die Umwelt: Eine natürliche Angst vor Höhe schützt uns vor dem Herunterfallen, eine natürliche Angst vor Ratten und Ungeziefer schützt vor Ansteckungen usw. Solche Phobien könnten also durchaus ein Teil unseres evolutionären Erbes sein, weil sie uns „instinktiv“ vor Schaden bewahren.
Aber schon ein erster Blick in dieses hübsche Buch macht klar, dass es über diesen engen evolutionsbiologischen Rahmen der schützenden Phobien ein weites und mitunter bizarres Spektrum an Ängsten und Zwängen gibt, mit denen sich Menschen herumschlagen müssen. Darunter finden sich auch eher „lustige“ Einträge (solange man nicht selbst darunter leidet), aber die meisten beziehen sich auf echte und nicht selten auch qualvolle Leiden.
Kate Summerscale hat während der Recherchen für dieses Buch nicht nur Spaß gehabt: Zunächst glaubte sie nicht, unter irgendwelchen Phobien zu leiden — abgesehen von ein paar kleinen Ausnahmen —, aber im Laufe des Schreibprozesses hatte sie sich „in so gut wie alle hineingesteigert“.
Das Schreiben von Sachbüchern macht eben nicht immer nur Spaß, sondern kann auch mitunter an die eigene Substanz gehen. Doch es hat sich gelohnt: Kate Summerscale hat ein äußerst abwechslungsreiches und spannendes Sachbuch über psychische Störungen geschrieben. Je länger man in diesem Buch liest, desto faszinierender wird die menschliche Psyche und ihr Potenzial, aus einer Mücke einen Elefanten und aus einer Maus eine Katastrophe zu machen.
Die Palette der menschlichen Phobien ist bemerkenswert. Man unterscheidet vor allem zwischen spezifischen Phobien (vor Tieren, bestimmten Gegenständen, Texturen usw.) und sozialen Angststörungen (bestimmte Situationen, Handlungen). Die Autorin führt in ihrem von Maria Zettner und Caroline Weißbach übersetzten Sachbuch insgesamt 99 verschiedene psychische Störungen auf und liefert für jeden Eintrag neben einer kurzen Definition und konkreten Fallbeispielen oft auch historische und andere interessante Hintergrundinformationen.
Vorsicht bei der Lektüre! Vielleicht finden Sie sich durch den einen oder anderen Eintrag seltsam „angesprochen“ und in ihren subtilen Ängsten „verstanden“? Dann wäre es nicht verkehrt, der Sache näher auf den Grund zu gehen … — Womöglich ist dieses Buch sogar in der Lage, bei besonders dünnhäutigen Menschen, die eine Neigung zu hypochondrischen Verhaltensweisen zeigen, bislang unbekannte Ängste zu wecken. (Darüber liegen jedoch bislang keine Erkenntnisse vor.)
Alle anderen werden kreuz und quer und mit großem Staunen und Lesevergnügen in diesem Buch schmökern und fasziniert sein von der großen Kreativität und Anpassungsfähigkeit der menschlichen Psyche. — Ein Buch, das nicht nur Bibliomanen unbedingt lesen sollten!
Autor: Kate Summerscale
Titel: „Das Buch der Phobien und Manien — Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen“
Herausgeber: Klett-Cotta
Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
ISBN-10: 3608987533
ISBN-13: 978-3608987539