Uwe Wittstock: „Marseille 1940 — Die große Flucht der Literatur“

Die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte haben einem Mann viel zu verdanken, von dem die allermeisten noch nie gehört haben dürften: dem Amerikaner Varian Fry. Der junge Journalist ist die Zentralfigur in Uwe Wittstocks neuem Buch über die großen Flüchtlingsströme, die sich ab dem Frühjahr des Jahres 1940 über den südfranzösischen Knotenpunkt Marseille auf der Flucht vor der vorrückenden deutschen Wehrmacht in Sicherheit bringen wollen.

Bereits vor einigen Jahren hatte Uwe Wittstock mit „Februar 1933 — Der Winter der deutschen Literatur“ ein packendes Sachbuch geschrieben, das kollagenhaft Tagebucheinträge und Selbstaussagen mit aus zahlreichen Quellen gespeisten Hintergrundinformationen zu einem Bilderbogen der historischen Ereignisse kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zusammenstellt.

Was sich liest wie ein temporeicher Roman, ist jedoch leider keine Fiktion, sondern war der reale Albtraum einer ganzen Schriftsteller- und Intellektuellen-Generation in Deutschland nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Mit großem literarischem Geschick gelingt es dem Autor, die bedrückende Atmosphäre jener Tage und Wochen nach dem 30. Januar 1933 zu beschreiben, jene bleierne Schwere, die sich in einem Tempo über das ganze Land legte und jedem Ruf nach Freiheit die Atemluft abschnürte.

„Marseille 1940“ ist nach demselben Prinzip aufgebaut. Auch hier stützt sich der Text nicht nur auf die Tagebuchaufzeichnungen und die Briefe jener Künstler und Intellektuellen, die stellvertretend stehen für viele andere und die wir auf ihren Schicksalswegen durch jene Zeit begleiten; sondern der Autor hat auch hier viele Dokumente (Erinnerungen, Autobiographien, Interviews) ausgewertet und auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft sowie mit einer Fülle von Hintergrundinformationen angereichert, so dass am Ende ein wahrhaft multiperspektivisches Werk entstanden ist, in dem ein vielstimmiger Chor von den grausamen Verhältnissen und den zahllosen Fluchtgeschichten erzählt, welche durch die nationalsozialistische Politik ausgelöst worden sind.

Der Blitzkrieg gegen Frankreich und der schnelle Vorstoß der deutschen Wehrmacht auf das französische Territorium erzeugte eine massenhafte Fluchtbewegung von bislang unbekanntem Ausmaß: Geschätzt etwa acht bis zehn Millionen Menschen flohen in den französischen Süden; unter ihnen befanden sich auch viele deutschen Intellektuelle, die in den Jahren zuvor seit 1933 im französischen Exil glaubten, ihre vorläufige Ruhe gefunden zu haben.

Wie unerwartet der deutsche Überfall auf Frankreich kam, zeigen die Reaktionen der Betroffenen; wie schnell und mit welcher zerstörerischen Gewalt die deutschen Truppen das Land überrollten, belegen die historischen Dokumente. Zusammen geben Sie uns eine gute Vorstellung von der Fassungslosigkeit und der blanken Angst, die sich unter den Flüchtenden breitgemacht haben muss.

Der historische Rahmen dieses Buches spannt sich vom Frühjahr 1940 bis zum Ende des Jahres 1941, als Fry in die USA zurückkehrte. Das Bedrückende an Uwe Wittstocks Büchern sind nicht allein die detailreichen Beschreibungen jener Grenzerfahrungen in Zeiten des Terrors, sondern leider auch die Aktualität jener historischen Ereignisse. Auch heute sind Menschen auf der Flucht vor einem Krieg, den ein autokratischer Machthaber mitten in Europa begonnen hat, mit immer noch unabsehbaren Folgen für die ganze Welt.

Mit seinem neuen Buch hat der Autor nicht nur den vielen Stimmen der Exilanten im Sommer 1940 ein Forum geschaffen; es ist auch ein literarisches Denkmal für Varian Fry, jenen amerikanischen Organisator und Fluchthelfer, der zusammen mit unzähligen Helfern vielen Hundert Verfolgten die Flucht vor den Nazis ermöglichte. Etwa acht bis zehn Millionen Menschen, so die Schätzungen, waren durch den Feldzug der deutschen Wehrmacht in Frankreich auf der Flucht. Unter ihnen befanden sich auch Hunderte von deutschen und österreichischen Intellektuellen, viele von ihnen waren Juden.

In Deutschland ist Varian Mackay Fry bis heute weitgehend unbekannt; es gibt bislang auch keine deutschsprachige Biografie über ihn. Dieses Buch soll und kann diese Aufgabe nicht übernehmen, meint auch Uwe Wittstock in seinem Nachwort. Aber „Marseille 1940“ kann zumindest einen Beitrag dazu leisten, die Bedeutung von Varian Fry zur Rettung der deutschen Literatur in Zeiten des Terrors zu erahnen und uns mit diesem Mann und seinem Netzwerk bekannt zu machen.

„Marseille 1940“ zeigt eindrücklich, was gut geschriebene Sachbücher über historische Ereignisse vermögen: Sie sind in der Lage, uns die Vergangenheit gegenwärtig erscheinen zu lassen; durch den gezielten Einsatz literarischer Darstellung bei der Präsentation der Fakten gelingt es, den Leser nicht nur intellektuell, sondern auch emotional an den historischen Stoff zu binden und dadurch die Wirksamkeit des Transformationsprozesses zu erhöhen. Die individuelle Transformation historischer Fakten in gegenwärtiges Erleben wird auf diesem Wege erst möglich.

Das vorliegende Buch ist ein gutes Beispiel für die gelungene Arbeit eines Historikers. Doch Uwe Wittstock ist gar kein Historiker, sondern Schriftsteller und Journalist, hat zuvor als Redakteur beim Focus, als Literaturredakteur für Die Zeit, als Lektor bei S. Fischer sowie als stellvertretender Feuilletonchef und Kulturkorrespondent für die Welt gearbeitet. — Es dürfte gerade jene jahrelange Praxis der redaktionellen und lektorierenden Arbeit sein, die sich mit einem großen Interesse für kultur- und literaturgeschichtliche Themen verbindet, die Wittstocks Bücher so überaus lebendig und lesbar machen.

 

Autor: Uwe Wittstock

Titel: „Marseille 1940 — Die große Flucht der Literatur“

Herausgeber: C.H.Beck

Gebundene Ausgabe: 351 Seiten

ISBN-10: 3406814905

ISBN-13: 978-3406814907