Nur auf den ersten Blick scheint die Globalisierung ein modernes Phänomen zu sein, welches die Gegenwart von der Vergangenheit unterscheidet. Jedoch bei genauerer Betrachtung wird klar, dass es transnationale und transkontinentale Verflechtungen auch schon viel früher gab, nicht erst seit der Frühen Neuzeit und der im 15. Jahrhundert einsetzenden Kolonialisierung der Welt im Zuge des europäischen Imperialismus, sondern noch früher, sowohl im Mittelalter als auch, genau genommen, schon in der Antike.
Legt man nämlich als Maßstab für eine Globalisierung die jeweils bekannte Welt eines Zeitalters zugrunde, so lässt sich durchaus auch für das antike Griechenland oder das Römische Reich — basierend auf den Handelswegen und dem Austausch zwischen den Kulturen — von Prozessen einer Globalisierung sprechen.
Der Drang des Menschen, über die eigenen Grenzen hinaus ins Unbekannte vorzustoßen, hat nicht nur die Entdecker beflügelt, sondern auch den Handel. Obwohl man natürlich in jenen Epochen der Weltgeschichte noch nicht von Nationalstaaten im modernen Sinne sprechen kann und es somit auch keinen Sinn machen würde, von transnationalen Verflechtungen zu sprechen, so lassen sich dennoch Prozesse des kulturellen Austauschs und des Aufbaus stabiler Handelsbeziehungen nachweisen.
Lange Zeit galt das Mittelalter als ein „dunkles“ Zeitalter der europäischen Geschichte; diese negative Sicht auf das Jahrtausend von 500 bis 1500 gilt inzwischen als überholt, wenngleich das Mittelalter vor allem im Vergleich zu den späteren Epochen auch nicht als besonders fortschrittlich gelten mag. Zu groß war der Einfluss der Kirche auf die Kulturen jener Jahrhunderte, bis hinein in die individuelle Lebenswelt des Einzelnen.
Der Professor (em.) für Mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, Michael Borgolte, hat im vergangenen Jahr bei C.H. Beck ein beeindruckende opus magnum vorgelegt, eine Globalgeschichte des Mittelalters (Die Welten des Mittelalters: Globalgeschichte eines Jahrtausends, 1.102 S., ISBN: 978-3406784460), deren kleine Schwester das hier besprochene Taschenbuch aus der Reihe C.H Beck Wissen ist.
Was in dem Hauptwerk des renommierten Mediävisten umfang- und detailreich unter Einbeziehung der aktuellen Forschungen in beeindruckender Weise dargestellt wird, kann man hier in einer verdichteten (und notgedrungen natürlich auch verkürzten) Form auf 128 Seiten lesen.
Eine Globalgeschichte des Mittelalters ist eigentlich eine zweigeteilte, worauf der Autor gleich im Vorwort hinweist; denn während die Verflechtungen der trikontinentalen Welt (Europa, Afrika und Asien, kurz: Eufrasien) jener Zeit von 500-1500 bereits recht gut dokumentiert sind, existieren für die Beziehungen zwischen den Welten des Pazifiks und den beiden Amerikas kaum solche Aufzeichnungen, was einerseits die historische Forschung erschwert und andererseits eine eurozentrische Perspektive befördern könnte, falls man es versäumte, einen wissenschaftskritischen Standpunkt einzunehmen, der ganz bewusst die Bi- bzw. Multilateralität jener transgressiven Verflechtungen zu betonen.
Denn nicht nur von Europa gingen kulturelle und wirtschaftliche Impulse in die anderen Weltteile, sondern auch umgekehrt beeinflussten jene fernen Länder und Kulturen den europäischen Kultur-, Wirtschafts- und Lebensraum.
Dass hier überhaupt von einer europäischen (und mehr noch: von einer globalen) Geschichte des Mittelalters erzählt wird, ist nicht selbstverständlich; lange Zeit galten nationale Geschichtsschreibungen als ausreichend, um die historischen Zusammenhänge einer Epoche zu verstehen. Nationalgeschichte (auch für jene Zeitalter, in denen es noch gar keine Nationalstaaten gab) erklärten plausibel, warum Kriege geführt wurden, warum die Interessen des einen Landes gegen die eine anderen Landes standen oder warum territoriale Streitigkeiten zu militärischen Konflikten führten.
Nicht zuletzt war es die Aufgabe von Nationalgeschichtsschreibungen, die Bedeutung der eigenen Nation hervorzuheben und die eigene Kultur als den anderen überlegen darzustellen. Nimmt man jedoch einen europäischen Standpunkt ein und versucht die europäische Geschichte einer Epoche zu erzählen, so verschwinden jene nationalen Konflikte schnell aus dem Blick zugunsten einer gemeinsamen und nach außen gerichteten Perspektive.
Eine solche Erzählperspektive nimmt der Autor in seiner Globalgeschichte des Mittelalters ein, indem er sogar noch weiter geht und die eurozentrische Sichtweise aufgibt und die eufrasische, trikontinentale Welt von Europa, Afrika und Asien in ihren komplexen Beziehungen in den Blick nimmt.
Auch in dieser komprimierten Erzählung stehen die drei monotheistischen Religionen des Christentums, des Islam und des Judentums als verbindendes Element im Zentrum der Globalisierungstendenzen. Die Erfahrung eines gemeinsamen Glaubens war gleichzeitig grenzüberschreitend und verbindend; die Religion und der gemeinsam gelebte Glaube wurden zur Grundlage eines gemeinsamen Wertesystems und dienten als harmonisierende Kräfte zur Überwindung (oder auch Toleranz) von kulturellen Unterschieden.
Das zweite Fundament einer globalen Welt des Mittelalters war der Fernhandel. Der Austausch von Waren war ohne den persönlichen Kontakt mit fremden Kulturen nicht möglich; so wurden neben den realen Gütern immer auch Teile von Kultur und Lebensart ausgetauscht. So kam es nicht zuletzt zu einem grenzüberschreitenden Wissenstransfer.
Doch jenes Bild eines globalen friedlichen Austauschs von Kultur- und Wirtschaftsgütern über alle (nationalen und religiösen) Grenzen hinweg entwirft ein allzu harmonisches Bild der mittelalterlichen Welt. Vertreibungen und Pogrome, Kreuzzüge und Verfolgungen waren ebenso Teil dieser Welt, wie Pest und andere Seuchen.
In seinem gut lesbaren und interessanten Text wirft Michael Borgolte einen modernen Blick auf das lange Mittelalter und zeigt, dass unsere Vorstellung von den „dark ages“ in mehrfacher Hinsicht zu düster ist. Natürlich war die Weltsicht der Menschen noch mehrheitlich geprägt durch die strengen Vorgaben der Kirche; ihre Vorstellungswelt war weder aufgeklärt noch modern. Dennoch waren der Austausch mit dem Fremden und die damit verbundene Neugier gegenüber dem Unbekannten ebenso Teile des mittelalterlichen Lebens wie die weitverbreitete Furcht vor allem, was sich nicht unmittelbar und plausibel in die eigene Lebens- und Erfahrungswelt integrieren ließ.
Die hier erzählte Globalgeschichte des Mittelalters schließt eine Lücke in der Historiographie. Sie sollte in Zukunft zum Ausgangspunkt für weitere interdisziplinäre Forschungsansätze werden, mit denen die grenzüberschreitenden Prozesse des gegenseitigen Austauschs zwischen Völkern und Kulturen stärker betont und eine veraltete eurozentrische Sichtweise auf die Weltgeschichte zugunsten einer globalgeschichtlichen Perspektive überwunden werden können.
Autor: Michael Borgolte
Titel: „Globalgeschichte des Mittelalters“
Herausgeber: C.H.Beck
Taschenbuch: 128 Seiten
ISBN-10: 3406803776
ISBN-13: 978-3406803772