Mit dem Namen Susan Sontag verbinden wir vor allem gesellschafts- und kulturkritische Essays, wie „Anmerkungen zu Camp“, ihrem vielleicht bekanntesten Essay (1964), oder auch ihre kritischen Auseinandersetzungen mit den modernen Medien und vor allem der Fotografie; wir kennen die 1933 geborene und 2004 gestorbene Amerikanerin als streitlustige und meinungsstarke Kulturkritikerin trat Susan Sontag. — Aber Susan Sontag als Schriftstellerin und Verfasserin von Short Stories? Das wird für viele Leserinnen neu sein, dabei hat sie neben den Essays und anderen Texten, die sich kritisch mit Kultur und Gesellschaft auseinandersetzten, auch einige Romane und autobiographische Schriften veröffentlicht.
Im Fischer-Verlag ist jetzt ein schmales Taschenbuch mit Erzählungen“ von Susan Sontag erschienen, welches eine genauere Betrachtung wert ist. Auf 124 Seiten werden hier exemplarisch fünf Texte (in der Übersetzung von Kathrin Razum) erstmalig in deutscher Sprache veröffentlicht, ergänzt durch ein der Einordnung dienendes Nachwort der Kulturjournalistin Verena Lueken.
Was der Verlag unter dem Gattungsbegriff „Erzählungen“ zusammenfasst, sollte man eher als „Kurzgeschichten“ (oder eben als Short Stories) bezeichnen, eine treffendere Bezeichnung, die auch Verena Lueken in ihrem Nachwort verwendet. Aber halten wir uns nicht mit Spitzfindigkeiten auf, sondern werfen wir einen Blick auf die hier versammelten Texte.
Den Anfang macht gleich ein längerer Text über die AIDS-Erkrankung eines Freundes, der die Geduld der Leser herausfordert. Sontag komponiert hier einen vielstimmigen Chor von Freunden und Bekannten jenes Kranken. Was zunächst eine interessante Strategie zur vielschichtigen Einführung der Hauptfigur jener Erzählung verheißt, wird schnell zu einer echten Herausforderung; denn dieses schillernde Mosaik aus kurzen Charakterisierungen wird ausschließlich in indirekter Rede geschildert.
Fast wirkt es wie eine Stilübung, wenn jener Text („Wie wir jetzt leben“) sich als eine fünfzehn Seiten lange Auflistung von „… sagte Max“, „Greg zufolge …“, „…, wie Tanya anmerkte“, „… sagte Orson“ usw. darstellt. Keine Variation, keine direkte Rede, keine Handlung, nur eine Sammlung von Aussagen.
Hat der Leser diesen ersten Berg bewältigt, wird es etwas besser; das nächste Stil-Experiment ist die „Beschreibung (einer Beschreibung)“: Hier berichtet die Erzählerin von einem Mann, der vor ihr auf der Straße zusammenbricht, und beschreibt, wie sie ihm erste Hilfe leistet. Diese Beschreibung ist unterbrochen von den Reflexionen der Erzählerin, die auf einer simultanen diegetischen Ebene ablaufen — und entsprechend optisch gekennzeichnet sind.
„Die Briefszene“ wiederum ist ein gutes Beispiel für den aphoristischen und selbstreflexiven Stil, der für viele Texte von Susan Sontag charakteristisch ist. „Der Blick aus der Arche“ ist ein literarisches Gedankenspiel, in dem in Dialogen zwischen einem Menschen und einem Vogel, in dem es um das Erzählen von Geschichten geht.
Der wohl interessante Text („Wallfahrt“) ist wieder autobiographisch und erzählt von Sontags Begegnung mit Thomas Mann in dessen amerikanischem Exil in Pacific Palisades, Los Angeles. Susan Sontag war 1947 gerade vierzehn Jahre alt, aber sie war sehr belesen und kulturell interessiert, hatte den Zauberberg gleich mehrmals gelesen, kannte auch viele andere Texte von Thomas Mann, liebte Strawinsky und Neue Musik. Ihr älterer Freund Merrill war ebenso begeistert von Mann, und er war es auch, der den Kontakt zu jenem „Großschriftsteller“ herstellte und dem es tatsächlich gelang, für beide eine Einladung zum Tee zu erhalten.
Für Sontag war dieses Treffen mit dem deutschen Genie vor allem ernüchternd. Sie hätte ihn am liebsten auch gar nicht treffen wollen, denn ein Schriftsteller „spricht“ durch sein Werk; alles, was er zu sagen hat, steht in seinen Texten. — Doch sie fährt natürlich mit und lernt Thomas Mann persönlich kennen.
Diese kurze Erzählung ist lesenswert! Sie beschreibt nicht nur so manche peinliche Situation während der gemeinsamen Teestunde, sondern lässt auch die Enttäuschung auf beiden Seiten nachvollziehen, wenn das deutsche „Genie“ zwei amerikanischen Schülern gegenübersitzt und im Plauderton versucht, die unangenehmen Pausen in der Konversation zu überbrücken. Der Vorbericht charakterisiert Susan Sontag und ihren ebenso kulturbegeisterten Freund als potenziell interessante Gesprächspartner, die durchaus in der Lage gewesen wären, sich ernsthaft mit dem Exilanten über die zeitgenössische deutschen Literaturszene und über E-Musik zu verständigen, doch das Gespräch kommt über wenige Anspielungen und den Austausch von Stichworten nicht hinaus. Am Ende sind alle froh, das Treffen zu beenden.
Dieses kleine Taschenbuch mit Erzählungen und literarischen Texten von Susan Sontag ist durchaus interessant und — zumindest in Teilen — durchaus lesenswert. Ob jene Textsammlung jedoch, wie der Klappentext behauptet, einen „essentiellen Baustein ihres Werks“ präsentiert, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden.
Autor: Susan Sontag
Titel: „Wie wir jetzt leben“
Herausgeber: FISCHER Taschenbuch
Taschenbuch: 128 Seiten
ISBN-10: 3596708672
ISBN-13: 978-3596708673