Die träumerischen und oftmals melancholischen Gemälde von Caspar David Friedrich sind heutzutage für uns der Ikonen der deutschen Romantik. Ob „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, die „Kreidefelsen auf Rügen“, „Der Mönch am Meer“ oder die „Abtei im Eichwald“ — Keiner hat diese von einer tiefen Sehnsucht geprägte und scheinbar so urdeutsche Gefühlswelt der Romantik besser illustriert als er. Jedoch die Tatsache, dass wir Caspar David Friedrich so instinktiv und untrennbar mit der deutschen Romantik verbinden, ist keineswegs selbstverständlich; nach seinem Tod war der Maler lange, lange Zeit fast vergessen, erst spät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen Maler des Realismus und Symbolismus seine teilweise radikalen Bildkonzepte zu schätzen; seine Wiederentdeckung durch das Publikum ließ noch länger auf sich warten.
Der Kunsthistoriker, Journalist und Autor Florian Illies hat sich intensiv mit dem Leben und Werk von Caspar David Friedrich befasst. Wie man es von ihm gewohnt ist, beinhaltet diese intensive Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand gleichermaßen dessen extensive Bearbeitung. Illies beschenkt seine Leser mit den Früchten einer komplexen und umfassenden Recherche, die sowohl in die Breite der vielfältigen Verknüpfungen von Werk und Leben des Künstlers ausgreift als auch die Tiefen des jeweiligen Gegenstands auslotet.
Wie schon in seinen früheren nonfiktionalen Publikationen zum Jahr „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“ oder über die „Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929-1939“ schreibt der Autor auch in „Zauber der Stille“ in einem anekdotenhaften Collage-Stil, bei dem einzelne Passagen parallelisiert werden. Scheinbar gleichwertig und ohne Zusammenhang springt der Autor vom frühen 19. Jahrhundert in die Gegenwart und wieder zurück.
Auf diese Art und Weise wird die Lektüre niemals langweilig, aber man muss so etwas mögen. Diese unglaubliche Fülle an Fakten, an kurzen und langen, sich überkreuzenden Spannungsbögen und überraschenden Zusammenhängen, die sich aus diesem schillernden Mosaik kleinster und größerer Teilchen ergibt, ist faszinierend, wird jedoch den einen oder die andere Leserin heillos überfordern. — Bei aller Detailtreue und Faktenverliebtheit ist der „Zauber der Stille“ kein reines Sachbuch im klassischen Sinne, sondern knüpft eher an die angloamerikanische Tradition spannender und anekdotenreicher Erzählkunst an, die sich auch und gerade im Sachbuch-Bereich großer Beliebtheit erfreut.
Wer sich auf diesen Erzählstil von Florian Illies einlässt, wird jedoch reich belohnt! Vor dem Leser entfaltet sich ein — warum nicht diese Metapher für eine Maler-Biographie verwenden?! — vielfarbiges und detailreiches Lebensbild eines Ausnahmetalents, eines (im besten Sinne) romantischen Künstlers, der seine Liebe zur Natur, seine Sehnsucht nach Stille und das Staunen über die Schönheit der Farben und des Lichts, die Weite des Himmels und des Meeres, das ehrfürchtige Innehalten und den träumerischen Blick des Menschen auf die Welt in seinen traumhaften und zeitlos schönen Gemälden und Zeichnungen zum Ausdruck brachte.
Feuer, Wasser, Erde und Luft bilden die vier großen Abschnitte dieses beeindruckenden Werkes, das viel mehr ist als die Biographie eines deutschen Malers der Romantik: „Zauber der Stille“ von Florian Illies erzählt uns nicht nur das Leben von Caspar David Friedrich, sondern lässt auch die damalige Lebenswelt vor dem geistigen Auge entstehen; und nicht zuletzt lässt er uns erahnen, was es bedeutet, ein künstlerisches Werk zu schaffen, das weit und lange über den eigenen Tod hinaus seine Wirkung entfaltet.
Dieses Buch legt offen, wie kulturelle Artefakte nicht nur für die Kultur ihrer Entstehungszeit relevant sind, sondern in ihrer Wirkung auch in die Zukunft ausgreifen und auf ihre Weise jene zukünftige Kultur verändern können, sofern sie auch dann noch relevant sind. — Ein durch und durch faszinierendes Buch und eine spannende Lektüre. Und in seiner leisen Melancholie, die uns aus Friedrichs Gemälden entgegenkommt, geradezu perfekt für lange und lehrreiche Leseabende in diesem dunklen Herbst und Winter 2023/24!
Autor: Florian Illies
Titel: „Zauber der Stille — Caspar David Friedrichs Reisen durch die Zeiten“
Herausgeber: S. FISCHER
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
ISBN-10: 3103972520
ISBN-13: 978-3103972528