Eugene Drucker: „Wintersonate“

Es geht um die alte Frage: Wie hätte ich mich verhalten? – Ein junger Künstler, ein Geiger, wird in den letzten Kriegsmonaten von der Wehrmacht dazu verpflichtet, in Hospitälern und Lazaretten für die verwunderten Soldaten zu spielen. Er wurde aufgrund seiner schwächlichen Gesundheit und eines schwachen Herzens vom Kriegsdienst frei gestellt und muss dafür seine Kunst in den Dienst der Armee stellen.

Das Publikum nimmt seine virtuosen Darbietungen sehr gemischt auf. Manchen Patienten scheint die Musik zu helfen, sich aus der festen Umklammerung durch die traumatischen Erlebnisse zu befreien und eine leise Ahnung davon zu erheischen, dass es hinter all dem Kriegsgetose immer noch eine Kultur gibt, die erhalten, gepflegt und wieder erlangt werden muss. Die Anderen sind jedoch zu sehr in ihrem Elend gefangen; Hass und Sarkasmus sind die einzigen Gefühle, die ihnen noch geblieben sind.

In Rückblenden wandern wir mit Burkhard Keller, dem Geiger, zurück in die Zeit kurz nach der Machtergreifung der Nazis. Zusammen mit seinem Freund Ernst und mit Alina, einer rumänischen Jüdin, lernte und spielte er an dem Konservatorium. Vom ersten Augenblick an war er von Alinas glockenklarer Stimme und ihrer Schönheit verzaubert. Die beiden werden ein Paar, wenn auch nur für kurze Zeit und gegen den Willen von Alinas Vater.

Während Ernst offen gegen die Nazis rebelliert und bald nach England emigriert, bleibt Burkhard Keller ängstlich und passiv. Er ist in seiner abwartenden Haltung gefangen und glaubt, es werde sich schon bald alles zum Guten wenden. Aber im Dritten Reich wird nichts mehr besser, sondern nur noch schlimmer. Die Judenverfolgung wird auch für den Nichtjuden Keller täglich spürbar, und mit dem Ausbruch des Krieges gehen seine letzten Illusionen dahin.

Aus Liebe zu Alina überlegt Keller, ob er sich mit Hilfe von gefälschten Papieren zum Juden machen lassen und zur Aufnahmeprüfung beim Jüdischen Kulturbund gehen soll. Der Kulturbund rekrutierte auf diese Weise die Mitglieder eines jüdischen Orchesters, dem Palestine Symphony Orchestra, und half vielen Juden in Deutschland, ganz legal nach Palästina auszuwandern. Auch Alina hat vor, nach Palästina zu gehen. Aber wieder zögert Burkhard Keller. Der Schritt in eine ungewisse Zukunft in Palästina bedeutete das Zurücklassen aller deutschen Wurzeln und einen kompletten Neuanfang. Ist die Liebe zu Alina stark genug?

Eines Tages wird er vom Kommandanten eines Konzentrationslagers abkommandiert, um Teil eines Experiments zu werden. Er soll vor den Häftlingen spielen. Man will erforschen, ob die Musik in der Lage ist, diesen ausgemergelten und hoffnungslosen Menschen einen Funken neuer Hoffnung und einen neuen Lebensmut zu geben.

Zunächst sieht Keller diese Aufgabe ähnlich pragmatisch wie seine Konzerte in den Lazaretten. Er spielt seine Stücke von Bach, Bartok und Ysaye. Doch in diesem Lager ist alles anders. Zunächst glaubt Keller, sich in einem Arbeitslager zu befinden. Der Kommandant versichert ihm glaubhaft, dass die großen Schornsteine zu einem Gummiwerk gehören. Der bestialische Gestank überwältigt den Künstler. Aus Rücksicht auf seine empfindsamen Sinne werde die Produktion eingestellt, solange er sich im Lager aufhielte, wurde ihm versichert. In Wahrheit sind die Öfen der Krematorien hoffnungslos überlastet und müssen gereinigt werden.

Eugene Drucker zieht den Leser Stück für Stück hinein in den unfassbaren Schrecken des Lageralltags im KZ während der letzten Kriegsmonate. Was der Protagonist für das Experiment eines seltsamen, aber kulturinteressierten Kommandanten hält, entpuppt sich als ein abscheulicher Menschenversuch mit tödlichem Ausgang.

Plötzlich wird aus dem mutlosen Mitläufer Burkhard Keller der aktive Teilnehmer an einem heimtückischen Spiel. Je mehr ihm klar wird, dass er zum Mittäter wird, desto schwieriger wird das Violinenspiel für ihn. Dennoch schafft er es immer wieder, sich auf seine Kunst zu konzentrieren und auf diese Weise zu überleben ohne zu verzweifeln. In der Musik sieht er sogar ein Heilmittel für die armseligen Kreaturen in den gestreiften Lumpen, denen er vorspielt.

In dem Lager herrschen eigene Gesetze. Der Geiger wird bevorzugt behandelt. Dennoch bleiben ihm der Schrecken und die allgegenwärtige Nähe des Todes an diesem hoffnungslosen Ort nicht verborgen. Umso mehr staunt er über Rudolf, einem der Wachleute, mit dem er sich über Musik, über Bach und das Geigenspiel unterhalten kann. Rudolf ist aber auch einer der Wachmänner, und er tötet ohne zu zögern.

Dieser Widerspruch zwischen Kultur und Barbarei, zwischen Krieg und Hoffnung auf Frieden, zwischen Angst und Aggression prägt auch Kellers Leben. Er wird plötzlich zum Mittäter, zum professionellen Handlanger eines skrupellosen Kommandanten. Er hat auch keine Wahl, denn man droht ihm mit der Gestapo, falls er vor Beendigung des Experiments das Lager verließe. Keller bleibt – und macht mit. Er arrangiert sich mit den Umständen – auch aus Furcht und Angst um sein eigenes Leben.

Das Geigenspiel zeigt Wirkung: Nach anfänglichen Darbietungen, die fast kommentarlos oder nur mechanisch beklatscht wurden, werden seine Aufführungen jedes Mal mehr zu einem heilsamen Erlebnis für die Lagerinsassen, das ihnen neuen Mut und neue Kräfte zu geben scheint.

Immer wieder ist es die Chaconne von Bach, die Keller vor diesen Todgeweihten spielt. Nach dem letzten Konzert nimmt das Experiment ein schreckliches Ende, bei dem auch Keller selbst sein Leben riskiert und fast ums Leben kommt.

Die Ereignisse im Lager haben sein Leben verändert, ihn an den Rand seiner Existenz gebracht und auch sein Verhältnis zur Kunst zerstört. Keller ist davon überzeugt, dass er nie wieder spielen kann. Und doch bleibt das Ende offen, und die Musik bleibt. Das Kriegsende ist nahe.

Danach bricht eine neue Zeit an. Eine Zeit, in der auch Keller von dem Erlebten Zeugnis ablegen kann, um seine Seele zu reinigen und sie von aller Last zu befreien. Nach diesem Zeugnis wird die Frage dieselbe sein wie am Anfang: Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich an Kellers Stelle gewesen wäre?

Eugene Drucker ist Solo-Violinist und Leiter des Emerson String Quartet. Sein Vater, der Geiger Ernst Drucker, emigrierte 1938 aus Deutschland nach Amerika. Dort wurde Eugene Drucker 1952 geboren, studierte Musik an der Juilliard School New York und Literaturwissenschaft und English an der Columbia University.

Die Geschichte seines Debüt-Romans basiert in Teilen auf den Erlebnissen seines Vaters und wurde auch inspiriert durch eine Passage aus einer Biographie über Albert Speer, in der Siegfried Borries kurz vor Kriegsende mit Albert Speer und anderen nationalsozialistischen Führungskräften nach Finnland reiste und für sie unter dem finnischen Sternenhimmel die Chaconne von Bach spielte.

„Wintersonate“ ist ein Roman, der den Leser mit Macht in die Gedankenwelt des Protagonisten Keller zieht und mit ihm die Schrecken der Zeit kurz vor dem Kriegsende erleben lässt. Eugene Drucker schreibt in einem sehr dichten Stil, der dem Leser kaum einen Schutzabstand zur Geschichte lässt. Der Leser steckt mittendrin in der Geschichte und muss sich immer wieder selbst die Frage stellen, wie er sich in dieser Situation verhalten hätte.

Auf diese Weise gelingt Drucker, woran viele Geschichten über die Zeit des Dritten Reiches scheitern: den Leser unmittelbar zu berühren und ihn dazu zu bringen, sich selbst in Frage zu stellen.

Eugene Druckers “Wintersonate“ ist ein packendes und sehr persönliches Buch; ein gelungenes Debüt und eine beeindruckende Geschichte über Liebe und Mut, die Macht der Musik und eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.

Autor: Eugene Drucker
Titel: „Wintersonate“
Sondereinband: 272 Seiten
Verlag: Osburg
ISBN-10: 3940731358
ISBN-13: 978-3940731357

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