Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard: „Empires — Eine globale Geschichte 1780-1920“

Eine Globalgeschichte der großen Reiche im „langen 19. Jahrhundert“ wäre vor einigen Jahren in dieser Form noch weitgehend unüblich gewesen. Zu sehr war der Blick der Historiker (wie auch der meisten anderen Geisteswissenschaftler) auf den europäischen Kontinent gerichtet; doch die Zeit des Eurozentrismus in den Wissenschaften scheint zum Glück endgültig hinter uns zu liegen; allseits versucht man nun beflissen, über den eurozentrischen Tellerrand hinauszublicken, und das ist gut so.

Zunächst erschien diese frühere Konzentration auf den europäischen Raum gleich aus mehreren Gründen plausibel und „natürlich“: Europäische Geschichte wurde in erster Linie als Nationalgeschichte be- und geschrieben, ein Erbe des 19. Jahrhunderts, in dem das nationalstaatliche Konzept zur Etablierung und Konsolidierung von Bemühungen nationaler Identitätsfindung priorisiert wurde; auf diese Weise wurden nationalistische Geschichtserzählungen bevorzugt — zu Lasten einer gesamteuropäischen Perspektive. — Eine Steigerung jener nationalgeschichtlichen Bestrebungen fanden im Personenkult des Historismus ihren Ausdruck: In dicken Folianten wurden hier der einzigartige Genius und die historische Bedeutung berühmter Persönlichkeiten für den „Gang der Geschichte“ herausgestellt; in den allermeisten Fällen waren es alte weiße Männer, die hier zwischen zwei Buchdeckeln zur Ehrung gelangten. Historismus und National-Geschichtsschreibung waren immer auch Zeugnisse einer „Geschichte von oben“, einer Herrschafts-Geschichte, in der das „gemeine Volk“ und die Besiegten bestenfalls am Rande Erwähnung fanden.

Doch mehr und mehr wurde deutlich, dass jene Nationalhistorien nicht mehr ausreichten, um geschichtliche Prozesse sinnstiftend abzubilden. Die moderne Geschichtswissenschaft machte es sich zur Aufgabe, nicht nur über zahlreiche Zwischenstationen (Sozial- und Alltagsgeschichte, Mentalitätsgeschichte usw.) den sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Tatsachen der historischen Entwicklungsprozesse Rechnung zu tragen, sondern neben jenen gesamtgesellschaftlichen Sphären auch die über nationale Grenzen hinausgehenden Prozesse in den Blick zu nehmen.

Die transnationalen und globalen Verflechtungen der Moderne führten jene Nationalgeschichten schnell an ihre Grenzen. So öffnete sich die Geschichtswissenschaft für die Darstellung jener Transfer- und Verflechtungsprozesse, die nationale Grenzen überschritten und nicht zuletzt im Zuge der Modernisierungsprozesse von Industrialisierung und Urbanisierung zu jenen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verflechtungen führten, die man unter dem Sammelbegriff Globalisierung zusammenfasste.

Jene Perspektive der transnationalen Geschichtsschreibung greift allerdings zu kurz, wenn man versucht, sie auf den europäischen Raum zu begrenzen. — Deshalb wird heute in der Geschichtswissenschaft versucht, eine Globalgeschichte in den Blick zu nehmen und bei der Beschreibung historischer Prozesse eine möglichst weite und offene Perspektive zu ermöglichen, indem man nicht zuletzt die eigene (europäische) Position kritisch reflektiert.

Diesem Anspruch fühlt sich auch das Autorenteam des vorliegenden Bandes verpflichtet. So verfolgen die beiden Autor*innen diesen selbstkritischen Ansatz und beschränken sich in ihrer globalen Geschichte der Empires im 19. Jahrhundert keineswegs auf den europäischen Raum, wenngleich das britische Empire sowie das russische und das osmanische Reich die Dreh- und Angelpunkte dieser umfangreichen Untersuchung bilden.

Demzufolge wird hier auch keine imperiale „Herrscher-Geschichte“ im alten Stil mehr erzählt, die an Zahlen und Daten, an kriegerischen Konflikten, Eroberungen und Gebietsgewinnen entlang Nationalgeschichte erzählt; sondern es werden auch und vor allem die Menschen in den Blick genommen und beschrieben, wie diese mit den vielfältigen Auswirkungen imperialen Handelns zurechtkommen (mussten).

Die interdisziplinäre Forschung der Geschichtswissenschaft bedient sich seit Langem auch der Methoden und Theorien verwandter Wissenschaftsdisziplinen, wie beispielsweise der Kulturwissenschaften und der Soziologie. Dieser interdisziplinäre Ansatz spiegelt sich auch im Aufbau dieses Bandes wider: Die fünf großen Abschnitte dieses umfangreichen Werkes (614 Seiten plus 120 Seiten Anhang) sind überschrieben mit „Erobern und Erschließen“, „Herrschen und Verhandeln“, „Glauben und Repräsentieren“, „Prosperieren und Profitieren“ sowie „Kämpfen und Verteidigen“.

Auf diese Weise gelingt es den beiden Autor*innen, eine umfassende Geschichte der Verflechtungen und Interdependenzen zu erzählen, die sowohl auf dem neuesten Forschungsstand ist als auch den Ansprüchen einer Leserschaft gerecht wird, die für die besondere Problematik einer solch globalen Geschichtsschreibung des konfliktreichen 19. Jahrhunderts mit seinen imperialistischen Bestrebungen und einer Politik kolonialistischer Ausbeutung sensibilisiert ist und die sich der Bedeutung der zeitgemäßen Aufarbeitung und Einordnung jener historischen Ereignisse verpflichtet fühlt.

Das 19. Jahrhundert war nicht nur das Jahrhundert der Nationalstaaten und des Wegs in die Moderne, sondern es war auch das Jahrhundert des Kolonialismus und imperialistischer Expansionspolitik. Wenngleich diese Untersuchung den historischen Rahmen auf die Zeit von 1780-1920 beschränkt, sind die Auswirkungen dieses „langen“ 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert — und eigentlich sogar bis in die Gegenwart spürbar. Denn Geschichte (und Geschichtsschreibung) ist immer der Blick in die Vergangenheit aus der jeweiligen Gegenwart. Wer den Blick in die Vergangenheit wirft, wird die Gegenwart besser verstehen; das Verständnis der historischen Zusammenhänge und die Interpretation der Vergangenheit erweitern den Horizont und eröffnen neue Möglichkeiten der Einordnung für die Gegenwart.

Schon immer steht der Beck-Verlag für höchste Qualität, was sowohl die äußere Erscheinung der Publikationen als auch deren Inhalt betrifft. Wer als Autor bei C. H. Beck publizieren darf, hat sich bereits in Forschung und Lehre ein gewisses Renommee verdient. So verhält es sich auch bei den beiden Autor*innen dieses Bandes:

Ulrike von Hirschhausen lehrt als Professorin für Europäische und Neueste Geschichte an der Universität Rostock; Jörn Leonhard ist als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg tätig. Von ihm sind bei C. H. Beck bereits mehrere Publikationen zum Ersten Weltkrieg und die Zeit der Weimarer Republik erschienen.

Diese Abhandlung über die drei großen europäischen Empires mit ihren kolonialen Gebieten in der ganzen Welt liest sich spannend wie ein Krimi, was vor allem das Verdienst der beiden Autor*innen ist, die als forschende und lehrende Professoren in engem Kontakt mit den Studierenden stehen und daher entsprechend nah an einer fiktiven Leserschaft. Wer sich (nicht nur als Studierende) für die großen Zusammenhänge und die zahlreichen Verflechtungen der imperialen Politik, Wirtschaft und den Lebenswelten der Menschen im 19. Jahrhundert interessiert, wird seine Freude an diesem Buch haben.

 

 

 

Autor: Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard

Titel: „Empires — Eine globale Geschichte 1780-1920“

Herausgeber: C.H.Beck

Gebundene Ausgabe:‎ 736 Seiten

ISBN-10: 3406800521

ISBN-13: 978-3406800528