Auf dem Tisch liegt ein neues Buch des bekannten Sozialpsychologen Harald Welzer. Nachdem er sich zuletzt mit dem Philosophen Richard David Precht um die öffentliche Meinung und die fragwürdige Rolle der Vierten Gewalt als Meinungsmacher gesorgt hatte, geht es diesmal um die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende und den Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für das geopolitische Denken in Deutschland und in Europa. Doch eigentlich geht es in diesem Buch sogar um mehr: nicht nur um die Frage, ob diese proklamierte Zeitenwende wirklich eine solche ist, sondern auch um die Frage, ob nicht vielmehr jenes Ausrufen von epochalen Brüchen und Zeitenwenden symptomatisch für eine Krise ist, eine Krise der Demokratie westlicher Bauart (eine andere Bauart wäre übrigens auch schwer zu finden)?
Befindet sich unsere Demokratie in einer Krise? Hat die Politik längst in den Krisenmodus geschaltet? Wer ist schuld an dieser Krise? Ist es die Politik? Sind es die Politiker? Oder sind wir selbst die Schuldigen? Mit anderen Worten: Steckt der Westen in einer Krise, ist sie vorübergehend oder tief und lebensbedrohend, ist der Westen gar am Ende? Wie könnte ein Ausweg aussehen? Wo findet sich eine Lösung — nicht nur für die aktuellen politischen Probleme, von denen es ja genügend gibt — Krieg, Klima, Konjunktur (…)? — Auf all diese Fragen hat unsere Politik anscheinend keine Antworten parat und ist scheinbar in vielen Bereichen so sehr mit sich selbst beschäftigt, mit kleinen Grabenkämpfen, Streitigkeiten um die Finanztöpfe, um Klimaziele und Schuldenbremsen, Kinderarmut und Fachkräftemangel, Inflation und Rezession, vor allem aber um die eigenen Befindlichkeiten. Dieser permanente Konfliktmodus bremst Entscheidungen und lässt vor allem eine große Leitlinie, ein politisches Ziel vermissen und erweckt den Eindruck, als stünde sich die Politik in erster Linie selbst im Wege. Das alles macht politische Prozesse intransparent und führt letztenden Ende dazu, dass sich viele Menschen längst von der Politik abgewendet haben und „denen da oben“ immer weniger zutrauen.
Vor vielen Jahren sprach man bereits von Politikverdrossenheit, es ist beileibe kein neues Phänomen. Man ahnte, dass es der demokratischen Landschaft auf Dauer nicht guttut, wenn sich die Politik ohne Profil und ohne Leitbilder nur noch den Tagesthemen zuwendet und zusieht, dass der Laden irgendwie weiterläuft. Wer immer nur bis zur nächsten Legislaturperiode plant, kann zwar im Prinzip auch nicht vieles falsch machen, er wird aber auch nicht die wirklich drängenden Probleme anpacken, mit denen die Welt konfrontiert ist. Jahre- und jahrzehntelang reichte es aus, den Kurs zu halten und den Schnellzug in Richtung Fortschritt und Wohlstand durch kleinere Korrekturen wieder „in die Spur“ zu bringen. So wurde die Politik zur Tagespolitik und zum Handlanger der Wirtschaft. Dem kleinen Mann ging es auch damals schon nicht besser, auch wenn es aufwärts ging. Aber so richtig dreckig ging es ihm auch nicht, so dass dieses Fahren auf Sicht in der Regel ausreichte, um ordentliche Mehrheiten zu erzielen und weiter im Amt zu bleiben.
Mittlerweile haben sich aber die Zeiten und die Verhältnisse geändert. Echte globale Probleme liegen auf dem Tisch, und so stinkt der Fisch ganz gewaltig — vom Kopf her. Da muss was getan werden, aber keiner will sich wirklich die Finger schmutzig machen. Zu bequem und schön war doch das Politikerleben in der bisherigen Blase … Nach der großen Koalition kam die Ampel. Sie ist nicht an allem schuld, aber sie muss nun den Karren aus dem Dreck ziehen — was ihr nicht gelingen wird —, aber sie muss es zumindest versuchen und vor allem: Sie muss das Kunststück vollbringen, die Demokratie zu retten! Dabei schießt sie oft übers Ziel hinaus und verfällt in Aktionismus. „Es gibt viel zu tun, packen wir’s an!“ ist zwar ein schönes Motto, aber ohne großes Leitbild, ohne eine große Langzeitstrategie, ohne eine „Vision“ lässt sich auch das Stimmvolk nicht mitreißen.
Helmut Schmidt empfahl seinerzeit Menschen mit „Visionen“, lieber mal zum Arzt zu gehen; aber so ganz ohne Vision wird aus Politik nur noch Tagesgeschäft. Bundespräsident Roman Herzog war der Überzeugung, es müsse ein „Ruck“ durch Deutschland gehen, damit alle Menschen im Land den Schuss hörten. Doch selbst ein Ruck (wie der Ukrainekrieg) führte nur partiell und temporär zu einem Umdenken in der breiten Bevölkerung.
Schuld ist sicherlich auch die zunehmende Individualisierung, die unsere Zeit charakterisiert. Je individueller wir in unseren Selbstinszenierungen werden, desto schwieriger wird es, Gemeinsamkeiten zu finden und die Wirkmächtigkeit gemeinsamer kultureller Werte zu spüren. Die virtuellen „Blasen“ der Social-Media-Kanäle haben längst die analogen Gemeinschaften ersetzt, und die virtuelle Abkapselung der Einzelnen führt zu einer zunehmenden Korrosion der alten gemeinschaftlichen Sozialstrukturen. Doch gerade jene Strukturen bilden die Grundlage für politisches Handeln. Und ohne politisches Handeln gibt es auch keine Demokratie.
Es steht zu befürchten, dass die aktuelle Regierung angesichts der vielen Problemfelder, mit denen sie konfrontiert sind, selbst nicht so recht weiß, wo sie anfangen und wie sie das anstellen soll. Denn für den großen „Wumms“ in Sachen Demokratie-Rettung sind die Partner der Ampel viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Es geht zu wie auf einem Kindergeburtstag: Der eine will Torte essen, der andere lieber Topfschlagen spielen, die Mädchen wollen tanzen, die Jungs Fußball gucken (…) Dass da einer Geburtstag feiern will, ist Nebensache.
Wäre die Lage nicht so ernst, so könnte man darüber lachen. Doch lachen werden vor allem die Alternativlinge von der AfD. Die Protestwähler kommen laut Umfragen aktuell bereits über 20 Prozent, das ist deutlich mehr als die alte Tante SPD für sich erwarten darf. Stand: August 2023.
Wie man es von ihm gewohnt ist, hält sich Harald Welzer nicht lange mit dem Lamento auf, sondern argumentiert ganz unsentimental und messerscharf, führt eine Menge von Belegen für das Versagen der politischen Eliten an und zeigt in seinem unterhaltsamen und erschreckend aktuellen Lagebericht der Nation auch viele Auswege aus der verfahrenen Situation auf. Somit ist auch dieser neue Titel ein echtes Mutmacher- und ein Mitmacher-Buch. Vielleicht geschieht ja ein Wunder, und „Zeitenende“ findet den Weg auf den Schreib- oder Nachttisch vieler Politiker, damit nicht nur „das Volk“ lesen kann, wie es ihm geht, sondern auch die politische Kaste den Spiegel vorgehalten bekommt und sich — vielleicht — eines Besseren belehren lässt?!
Sich nicht hinter schönen Phrasen zu verstecken, sondern auch unattraktive Entscheidungen zu treffen, die eigene Realpolitik in ein komplexes Leitprogramm einzubinden, das auch übergeordnete Ziele verfolgt, den Dialog mit den Bürgern ernsthaft zu suchen und sich auch nicht vor anstrengenden Diskussionen zu fürchten — das alles gehörte eigentlich zum politischen Alltag in einer Demokratie, die diese Bezeichnung auch verdient.
Welzer beschreibt Demokratie zurecht als ein zivilisatorisches Projekt und als einen dynamischen Prozess: „Demokratie und die freiheitliche Ordnung sind in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts nichts Gegebenes, sondern ein Lernprozess, der Gemeinschaftlichkeit voraussetzt“. Nichts ist statisch und gegeben, sondern Demokratie lebt vom Austausch, vom sachlichen Streiten für die bestmögliche Lösung. Das ist unbequem und es macht Arbeit. Aber alles Andere wäre nur eine schlechtere Lösung.
Auch dieses Buch hat Welzer mit Verve geschrieben; man merkt ihm an, dass er sich schwertut mit der Vorstellung einer Welt der sich von der Politik abkoppelnden Mehrheiten und mit einer sich von der Mehrheit abkoppelnden Politik. Doch genau solch einen Eindruck kann man von unserer Gesellschaft bekommen, wenn man sich die Nachrichten anschaut — falls man sich noch die Nachrichten anschaut.
Unsere durch jahrzehntelangen Frieden und Wohlstand verwöhnte Bundesrepublik ist den permanenten Krisenmodus nicht mehr gewohnt. Lange Zeit lief alles ganz hervorragend im Lande, doch dann erschienen plötzlich immer mehr Krisen am Horizont: Flüchtlingskrise, Klimakrise, Pandemie, Kriegsgefahr, Inflation und Wohlstandsverlust … Lange Zeit konnte man das Navigieren dem Autopiloten überlassen. „Die“ Politiker haben den Laden am Laufen gehalten, und die Bürger mussten sich um nichts kümmern. Das war sehr bequem, doch das scheint nun vorbei zu sein. Umso schlimmer wiegt das offensichtliche Versagen der demokratischen Parteien. Davon profitieren die Parteien der Rechten, allen voran die AfD. Die hat zwar keinerlei Konzept oder Kompetenz, aber die Menschen wählen sie trotzdem, einfach weil sie da sind und anders zu sein scheinen als die etablierten Parteien. Welzer weist in diesem Zusammenhang zurecht darauf hin, dass es längst nicht mehr genügt, sich über die AfD zu empören. Längst habe man sich innerhalb des etablierten Parteienspektrums mangels eigener Substanz angewöhnt, Punktgewinne auf Kosten der anderen zu machen. „Das ist toxische Politik, und die erzeugt genau jene Kultur der Destruktivität, die für Demokratiefeinde die perfekte Entwicklungsumgebung ist.“
Am Ende sind wir alle aufgefordert, unser Gemeinwesen wieder in die richtige Spur zu bringen und auch das politische System nicht mehr als abgekoppelte Strukturen selbstbezogener Entscheidungsträger zu begreifen, sondern als integrale Bestandteile einer funktionierenden Demokratie, denn „demokratische Politik ist, persönliche Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen“.
Autor: Harald Welzer
Titel: „Zeitenende — Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr“
Herausgeber: S. FISCHER
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
ISBN-10: 3103975813
ISBN-13: 978-3103975819