Tobias Hill hat einen spannenden Roman über Geld, Macht und Liebe geschrieben. „Der Kryptograph“ ist die Geschichte der jungen Steuerfahnderin Anna Moore. Wir befinden uns im London des Jahres 2020. Das altmodische Geld wurde abgelöst durch SoftGold, einer virtuellen Währung, die nichts kostet und deren digitaler Sicherheits-Code niemals geknackt werden kann.
Erfinder dieser digitalen Wunder-Währung ist der charismatische John Law, der erste Billiardär der Geschichte. Als „Kryptograph“ hat sich John Law zunächst mit seinem Projekt „Asphodel Nine“ einen Namen gemacht, einem Verfahren, das es erlaubt, verschlüsselte Daten in Pflanzen zu verstecken. Später soll es ihm auch gelungen sein, verschlüsselte Informationen in Menschen zu pflanzen. Die Erfindung von SoftGold machte ihn dann zum reichsten Menschen der Welt.
John Law lebt in Erith Reach, einem riesigen, von chromstählernen Mauern umgebenen Anwesen, nachdem er der Stadt London die ganze Gemeinde Erith abgekauft und komplett umgestaltet hat.
Anna Morre ermittelt gegen Law wegen steuerlicher Unregelmäßigkeiten. Der Fall ist schnell abgeschlossen, die paar Millionen Strafe an das Finanzamt überwiesen, doch Annas Begegnung mit John Law hat Spuren hinterlassen. Sie sucht seine Nähe, erst auf dem Winterball der Familie Law und später, nachdem John Law spurlos verschwunden ist, auch auf der ganzen Welt.
Anziehung und Faszination beruhen auf Gegenseitigkeit. John Law hat schnell die Ambiguität Annas und ihre Zerrissenheit zwischen den Anforderungen ihrer Arbeit und den Verlockungen der Macht gespürt; er sieht in ihr eine Steuerfahnderin, „die sich nicht immer wie eine Steuerfahnderin verhält“.
Aber sie macht ihren Job gewissenhaft und gut; sie ist erfolgreich, weil sie für die Beweisführung nicht nur die reinen Fakten berücksichtigt, sondern auch immer nach den Motiven der Täter fragt: „Ich will wissen, woran Du denkst, wenn Du an Geld denkst.“
London im Jahre 2020 ist eine Welt, die der unsrigen noch sehr ähnelt. Biometrie ist jedoch bei der Personenidentifizierung zum Standard-Verfahren geworden. Chipkarten verlangen statt eines Passwortes den Daumenabdruck des Inhabers; wer den Code knacken will, braucht also den entsprechenden Daumen. Kriminelle haben sich den neuen Gegebenheiten angepasst und praktizieren die Technik des „Abdaumens“: Mit dem Diebstahl der Kreditkarte wird dem Bestohlenen auch gleich der Daumen abgetrennt; dies erspart das lästige Suchen nach der passenden PIN.
Mitunter werden jedoch manche Details vom Autor für die gezielte Handlungsführung eingesetzt, die im Jahr 2020 recht unglaubwürdig wirken: Man mag kaum glauben, dass es in zehn Jahren auch noch passieren kann, dass „plötzlich der Handy-Akku leer ist“; aber es passt eben gerade so gut in die Handlung.
Anna Moore lernt die Familie Law kennen: Muriet und Nathan, Tochter und Sohn, und natürlich Anneli Law, Johns Frau. Anna befindet sich im Spannungsfeld zwischen Ermittlungsarbeit und persönlicher Faszination. Sie fühlt sich zugleich angezogen und abgestoßen vom Leben dieser Superreichen.
Jene Passagen, die inneren Dialoge der Protagonistin, sind Tobias Hill noch am besten gelungen. Ansonsten schwächelt der Roman aufgrund eines etwas zu flachen Plots.
Rückblenden sollen dem Leser Annas Verbundenheit mit Lawrence, dem seit seinen alkoholischen Ausfallerscheinungen vom Dienst beim Finanzamt suspendierten, älteren Kollegen, Freund und Liebhaber signalisieren. Andere Nebenrollen wie die Schwester Martha und Annas Mutter werden nur kurz umrissen, was jedoch eher von Vorteil ist, weil so der Plot auf die Hauptakteure konzentriert bleibt.
Am 22. September 2021 kommt es zur Katastrophe. Sie kündigt sich ganz langsam an: Probleme beim Geldabheben, differierende Kontostände. Dann breitet sich die Gewissheit wie ein Flächenbrand um den ganzen Globus aus: Der absolut sichere Code von SoftGold wurde geknackt. Wilde Spekulationen über die Täter werden schnell überschattet von den katastrophalen Nachrichten von den weltweiten Finanzplätzen. Die Weltwirtschaft kollabiert, und viele sehen in John Law den einzig Schuldigen.
Anna glaubt nicht daran und ist von John Laws Unschuld überzeugt. Je länger sie sich mit John Laws Welt beschäftigt, desto mehr wird ihre Faszination zur Obsession. Sie möchte verstehen, was in solch einem Menschen vorgeht, wie er denkt und nach welchen Prinzipien er handelt. Sie ist auf der Suche nach der Wahrheit, und nur John Law selbst kann sie ihr zeigen.
Seit dem Kollaps von SoftGold ist John Law spurlos verschwunden. Anna Moore kündigt ihren Job beim Finanzamt und sucht ihn auf der ganzen Welt. Sie findet ihn an einem Ort, den kaum einer kennt.
Tobias Hill hat einen spannenden Roman geschrieben, der im London der nahen Zukunft spielt. Seine Geschichte klingt glaubwürdig und unheimlich zugleich, und das Buch ist unterhaltsam geschrieben. Die Dialoge lassen die aufgebaute Spannung jedoch schnell wieder abfallen; ihre Sprache ist im doppelten Sinne alltäglich.
Im englischsprachigen Raum hat sich Tobias Hill bereits als junger Erfolgsautor einen Namen gemacht. „Der Kryptograph“ ist sein erstes Buch, das in deutscher Sprache veröffentlicht wird. Ob ihn die deutschen Leser ebenso feiern werden wie das Publikum in Großbritannien und den USA, wird sich zeigen.
Autor: Tobias Hill
Titel: „Der Kryptograph“
Gebundene Ausgabe: 318 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann Verlag
ISBN: 3570010813
EAN: 978-3570010815