Edmund Edel: „Berlin W. – Ein paar Kapitel von der Oberfläche“

Der Nicht-Berliner verbindet mit Berlin wahrscheinlich das Brandenburger Tor, die internationale Party-Szene, den Alexanderplatz und natürlich den Kurfürstendamm. Dass der Kurfürstendamm aber nicht schon immer und ganz selbstverständlich zu Berlin gehörte, sondern erst vor gut hundert Jahren zum zentralen Boulevard des neuen Berliner Westens wurde, ist selbst so manchem Berliner gar nicht so bekannt.

Wir Heutigen nehmen Berlin, die Stadt mit den vielen Zentren, einfach so hin, wie wir es kennen. Dabei ist Berlin (Groß-Berlin) das Ergebnis eines Verwaltungsvorgangs, der 1920, also vor ziemlich genau hundert Jahren, verordnet wurde, und der Kurfürstendamm mit seinen mondänen Stadtvillen entstand auch erst in den 1880er Jahren.

Zuvor lebte „man“ an der Friedrichstraße, in der Nähe des Berliner Stadtschlosses und des damaligen Pracht-Boulevards Unter den Linden. Hinter dem Brandenburger Tor, in Richtung Westen, ging man bestenfalls in den Tiergarten oder fuhr „ganz weit raus“ nach Charlottenburg oder Wilmersdorf. Nur am südlichen Ende des tiergartens wohnte die Gutbetuchten: im „alten Westen“ rund um das Lützowufer.

Das änderte sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den 1880er Jahren. Wer in der Berliner Mitte an der Friedrichstraße wohnte, lebte zwar mitten im Herzen der Stadt, aber er lebte leider auch nicht selten im Smog. Denn nördlich des Oranienburger Tores, an der Chausseestraße und auch weiter westlich über Moabit und Wedding erstreckte sich das Berliner „Feuerland“, das Industriegebiet der großen Fabriken mit ihren vielen Schornsteinen. Der konjnkturelle Aufschwung im Zeichen der Industrialisierung des Kaiserreichs brachte zwar vielen Unternehmern einen größeren Wohlstand, aber eben auch eine Menge schlechter Luft.

Da in Berlin der Wind meistens aus dem Westen kommt, war es die einfachste Lösung, um den rußgeschwärzten Winden zu entgehen, weiter hinaus in den Berliner Westen jenseits des Brandenburger Tores zu ziehen. Auf diese Weise entstanden das alte Hansaviertel im Tiergarten und auch der „neue Westen“ (Berlin W.) rund um den Kurfürstendamm.

Nach dieser kleinen stadtgeschichtlichen Einleitung sind wir endlich dort angelangt, wohin uns auch das wundervolle und heitere Buch von Edmund Edel entführt. Der Maler,Plakatkünstler und Illustrator Edel hat in seinem kurzen Roman „Berlin W. — Ein paar Kapitel von der Oberfläche“ ein humorvolles Sittenbild dieser neuen „besseren“ Berliner Geselllschaft um 1900 gezeichnet.

Edel wurde dem zeitgenössichen Publikum vor allem durch seine Karikaturen bekannt, die er in den „Lustigen Blättern“ und im „Ulk“ (beides Zeitungsbeilagen von auflagenstarken Berliner Tageszeitungen) veröffentlichte.

Wenn man „Berlin W.“ liest, so zeigt sich das künstlerische Talent des Zeichners auch schnell auf dem literarischen Feld. Passender Weise hat Edel den Untertitel „Ein paar Kapitel von der Oberfläche“ gewählt, denn genau so präsentiert sich der Text: Es sind schnell, aber punktgenau und meisterhaft skizzierte Charakterstudien von der Oberfläche. Oberflächen-Malerei im besten Sinne.

Der Oberflächen-Künstler Edel beschreibt in kurzen Skizzen, was er sieht. Es ist ja immer zunächst die Oberfläche, welche dem Beobachter erscheint. Was dahinter steckt, können wir nur erahnen, und ohne weitergehende Informationen werden wir es nie erfahren. Der „neue Berliner Westen“, den Edmund Edel aus eigener Anschauung bestens kannte, weil er selbst dort lebte und arbeitete: Jene piekfeine und mit viel Stuck an der Oberfläche ausstaffierte Gegend um den Kurfürstendamm beschreibt er mit viel Liebe und mit ebenso viel Augenzwinkern.

Es ist die Welt der Großunternehmer und Rentiers, die Welt der imposanten Stadtvillen mit Dienstboten-Eingängen, aus denen die hübscheren Dienstmädchen mit den weißen Häubchen emsig ein- und ausgehen. Es ist eine scheinbar heile und wohlhabende Welt mit musisch veranlagten „höheren“ Töchtern und hochbegabten Söhnen, die es weit bringen werden im Leben.

Und so beschreibt Edmund Edel in seinem bunten Sittenbild auch keine „echten“ Figuren aus Fleisch und Blut, sondern Typen. Ein solches Verfahren bietet sich auch an, wenn man als beobachtender Autor an der Oberfläche bleibt und nur das beschreibt, was zu sehen ist. Doch gerade jene scheinbare Distanz, die der Autor zu seinem Forschungsgegenstand aufbaut, entpuppt sich schnell als ein Vorteil. Das liegt jedoch daran, dass Edel sich nicht im Beschreiben von Klischees gefällt, sondern immer das Allgemeine und Charakteristische an seinen Figuren hervorzuheben weiß.

So machen wir die Bekanntschaft der Familie Meyer, die stellvertretend für die neuen Bewohner von Berlin W. steht. Was die Lektüre dieses leichten und beschwingten Gesellschaftsbildes so spannend macht, sind aber vor allem die zahlreichen eingestreuten „Realien“, Straßen- und Firmennamen, kulturelle Orte und zeitgenössische Formen der Freizeit- und Konsumkultur. Mit Edels Beschreibungen des gesellschaftlichen Alltags von Berlin W. sind wir Leser quasi „mittenmang“, um an dieser Stelle mal einen Berliner Ausdruck zu gebrauchen …

Edels Skizzen von der Oberfläche lesen sich über weite Strecken wie literarisch überformte Protokolle einer teilnehmenden soziologischen Beobachtung; sein Text erscheint zu einer Zeit und in einem wissenschaftlichen Umfeld, als die junge Disziplin der Soziologie gerade beginnt, ihre wissenchaftlichen Verfahren zu entwickeln. Mit dem Berliner Soziologen Georg Simmel (der übrigens seinerzeit auch schon bald im Berliner Westen wohnen wird) entsteht auch ein neuer Zweig, die Stadtsoziologie, und mit ihr die wissenschaftliche Erforschung des Großstadtlebens.

Damit an dieser Stelle kein Misverständnis aufkommt: „Berlin W.“ ist ein leicht lesbarer und humorvoller literarischer Text über die feine gesellschaft im Berliner Westen um 1900. Gleichzeitig ist es kein Zufall, dass Edmund Edel auch zu jener Zeit einer der Autoren ist, die zwischen 1904 und 1908 an einem literarischen Großprojekt beteiligt sind: den „Großstadt-Dokumenten“ des Publizisten und Schriftstellers Hans Ostwald. Im Rahmen der „Großstadt-Dokumente“ gebührte Edel die Ehre, den letzten Band der 50-bändigen Reihe über „Neu-Berlin“ zu schreiben.

Wenn der Autor selbst im Titel auf die Oberfläche verweist, so ist auch dies kein Zufall. Das wohlhabende Großbürgertum lebte in einem stark vom Materialismus beeinflussten Umfeld. Die Welt des Konsums und der Mode, der gegenseitigen Einladungen und des öffentlichen Lebens in der aus allen Nähten platzenden Großstadt brachte es mit sich, dass man sich mit schönen Dingen umgab, und dass man zeigte, was „man“ sich leisten konnte.

Ein bisschen Oberflächlichkeit in den Kontakten passte somit ganz gut zum mondänen Lebensstil, dem man sich gönnte. Was Georg Simmel in seinem berühmten Essay über „Die Großstädte und das Geistesleben“ als die „Blasiertheit“ des Großstädters beschrieb, war sicherlich nicht nur dem Umstand geschuldet, dass man der Reizüberflutung im öffentlichen Raum eine Schutzfunktion entgegensetzen musste, sondern hing wohl auch mit einem gewissen Habitus zusammen, den man für chic und angebracht hielt.

Man findet übrigens einige Texte von Edmund Edel mit ein wenig Spürsinn auch als Digitalisate im Netz. Aber es macht doch viel mehr Spaß, ein gut gebundenes Buch in der Hand zu halten, im Text hin und her zu blättern und sich an den schönen Skizzen von Edmund Edel zu erfreuen.

Darüber hinaus bietet diese schöne Neuausgabe von „Berlin W.“, die jetzt im noch recht jungen Quintus-Verlag erschienen ist, auch noch ein hilfreiches Glossar sowie ein sehr informatives und gut kluges Nachwort von Björn Weyand, welches den Leser mit diesem zu Unrecht lange vergessenen Bild- und Textkünstler bekannt macht.

„Berlin W.“ ist der Auftakt zu einer Reihe von weiteren geplanten Publikationen mit Texten von Edmund Edel, und man darf sich freuen und gespannt sein, welche „Perlen“ uns zukünftig noch präsentiert werden!

 

 

Autor: Edmund Edel
Titel: Berlin W. – Ein paar Kapitel von der Oberfläche
Herausgeber: ‎Quintus-Verlag
Gebundene Ausgabe: ‎192 Seiten
ISBN-10: ‎3969820456
ISBN-13: 978-3969820452