Harald Welzer: „Nachruf auf mich selbst“

Es ist schon oft und viel (auch an dieser Stelle) über den packenden, motivierenden und optimistischen Schreibstil Harald Welzers geschrieben worden, der die Lesenden unermüdlich zum Selbst-Denken und Selbst-Handeln aufruft. Nun liegt mit seinem „Nachruf auf mich selbst“ seine jüngste und vielleicht auch persönlichste Veröffentlichung vor.

Der Titel ist bewusst gewählt, wofür es einen ganz konkreten Anlass gab. Denn der Autor erlitt am 22. April 2020 einen Herzinfarkt, den er wahrscheinlich nur wegen des beherzten (!) Eingreifens einer Kardiologin und einer schnellen Einweisung in die Notaufnahme so gut überlebt und überstanden hat. Diese plötzliche Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit — das hört und liest man immer wieder — hat wohl auch bei Harald Welzer zu einem verstärkten Nachdenken über das eigene Leben und Wirken geführt.

Im Angesicht des eigenen (möglichen) Todes relativiert sich so Einiges, und viele scheinbar wichtigen Dinge verlieren ihre Wichtigkeit. Solch ein einschneidendes Erlebnis scheint wie eine neue Brille zu sein, die man ungefragt aufgesetzt bekommt, sobald die Fortdauer des eigenen Daseins infrage gestellt wird, sei es durch einen fast tödlichen Unfall, eine plötzliche lebensbedrohende Krankheit oder durch andere Bedrohungen des eigenen Lebens.

So schlimm und einschneidend diese Erfahrungen für den Autor persönlich sein mögen, so sehr profitiert seine Leserschaft von dieser „neuen Brille“: Denn zusätzlich zu dem schon oben beschriebenen motivierenden und stets auf eine breite Wissensbasis zurückgreifenden Schreibstil Welzers kommt nun auch noch eine selbstreflexive und subjektivierende Note, durch welche er die Perspektiven kollektiven und individuellen Handelns vereint.

Im Unterschied zu vielen Anderen, die sich, wie er selbst, durch eine starke Medienpräsenz auszeichnen, hat Harald Welzer wirklich etwas zu sagen: Er vertritt eben nicht nur eine Meinung — das kann jeder —, sondern er argumentiert plausibel und kann seine Aussagen bei Bedarf auch stets durch wissenschaftliche Fakten absichern. Immer wieder verblüfft seine Argumentation durch ihre Stringenz und Klarheit, weil Harald Welzer mühelos zwischen den Rollen des distanzierten Beobachters (Wissenschaftler) und des selbst betroffenen Individuums zu wechseln versteht und dabei stets Theorie und Praxis verbindet.

Und so geht es auch in diesem neuen Buch wieder einmal um alles: um den Klimawandel und die Möglichkeiten des Einzelnen, durch Handeln (und Nicht-Handeln) seinen Beitrag zur Verhinderung (oder wenigstens der Verminderung) der Klimakatastrophe zu leisten. Es geht auch und immer wieder um den Gebrauch des eigenen Verstandes (im Sinne der Aufklärung), um ein Selbst-Denken und Selbst-Handeln, das sich dem weichgespülten Mainstream und dem Dauerfeuer der Lobbyisten widersetzt und dabei nicht über die unzähligen Worthülsen der Demagogen stolpert.

Es geht Harald Welzer mit anderen Worten auch um die Gestaltung und Gestaltbarkeit einer positiven Zukunftsvision, die sich bewusst dem „Immer-Mehr“ der kapitalistischen Lebens- und Denkweise entgegenstellt. Denn eines ist klar: Wenn wir uns weiterhin dem Diktat der Fortschrittsgläubigen und einer Wirtschaftslogik des „Immer-Mehr“ unterwerfen, wird die dringend notwendige Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik nicht gelingen — und damit auch nicht die Einhaltung von Klima-Zielen.

Dabei geht es ja gerade nicht um eine weitere Runde von Zielsetzungen und Absichtserklärungen, die sich ja, wie auch schon in den vergangenen Jahrzehnten, beliebig wiederholen und skalieren lassen, sondern es geht um ein entschiedenes Handeln, und zwar — jetzt.

Dieses Handeln beschreibt Harald Welzer vor allem als ein „Aufhören zu handeln“, als die aktive Verweigerung des Einzelnen und der Gesellschaft gegenüber dem alten Trott. Anstatt immer weiter in dieselbe Richtung zu denken und zu handeln, an den Fortschritt und an dessen Alternativlosigkeit zu glauben, muss ein völlig neues Paradigma her: ein Umdenken, eine Umkehr, ein Aufhören mit immer Demselben. Es geht um das Aufhören und um die Unterbrechung des unendlichen Kreislaufs aus Konsum und wirtschaftlichem Wachstum auf Kosten der Ressourcen der Erde.

Harald Welzers neues Buch ist nicht nur eine spannende Lektüre über die Möglichkeiten einer Transformation eigener eingeschliffener Verhaltensweisen, sondern auch eine ehrliche Selbstbefragung des Autors zu seinem Leben und Wirken, zu den Möglichkeiten und Grenzen seines eigenen Handelns.

In diesem „Nachruf auf mich selbst“ findet Harald Welzers Argumentation zu einer neuen Tiefe und Reife, die sich vor allem in einer erhöhten Selbstreflexivität artikuliert. — In jeder Hinsicht ein bewegendes Buch!

 

 

Auto: Harald Welzer
Titel: „Nachruf auf mich selbst“
Herausgeber: S. FISCHER
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
ISBN-10: 3103971036
ISBN-13: 978-3103971033