Eine junge amerikanische Frau schreibt über die Nöte der digitalisierten Jugend der Welt. Man kann längst nicht mehr national differenzieren; bestenfalls graduell sind die Unterschiede jenes global zu beobachtenden Phänomens digitaler Verwahrlosung. Ohne an dieser Stelle zu spenglern und den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören zu wollen, kann man dennoch festhalten, dass sich die Wirklichkeit in einer Krise befindet. Es geht um nichts Geringeres als um die Rückeroberung von Raum und Zeit im Leben jedes einzelnen von uns. Es geht um einen Ausbruchsversuch aus dem digitalen Hamsterrad der Attention Economy.
Es mag das individuelle Problem eines älteren weißen Mannes sein, dass ich mich daran störe, von jungen Frauen die Welt erklärt zu bekommen. — So geschieht dies in dieser Buchsaison gerade auf dreifache Weise: Jio Tolentino, Diana Kinnert und eben Jenny Odell geben in mehr oder weniger umfangreichen Büchern ihre Wasserstandsmeldungen aus der virtuellen Welt bekannt. Was in all diesen Neuerscheinungen verkündet wird, sind keine echten Neuheiten, keine bahnbrechenden Erkenntnisse, welche die Welt und das eigene Denken auf den Kopf zu stellen vermögen, und vielleicht ist gerade das der Grund für mein zögerliches Lob.
Gleichwohl ist es eine Tatsache, die man(n) nicht von der Computertastatur wischen kann, dass es offenbar erst der mahnenden weiblichen Stimmen bedarf, bevor diese Riesen-Elefanten wahrgenommen werden, die direkt vor unseren Nasen stehen, wohin wir uns auch wenden. Die kollektive Vereinsamung, die innere Ruhelosigkeit sowie der zunehmende Mangel an Konzentrationsfähigkeit sind Phänomene unserer schnelllebigen Zeit. Warum ist sie schnelllebig? — Weil wir uns freiwillig dem Regime der Aufmerksamkeitsökonomie unterwerfen; weil wir mitspielen in diesem globalen Wettbewerb; weil wir uns selbst zu Produkten machen, indem wir unsere Daten zur Verfügung stellen und indem wir zulassen, dass alle Lebensbereiche dem Primat der Ökonomie unterworfen werden.
Jenny Odell ist ein gebranntes Kind, denn sie hat ihr Leben überwiegend dort verbracht, wo alle Geeks gerne Karriere machen würden: in der Bay Area — also gleich um die Ecke vom Silicon Valley. Sie hat auch dort gearbeitet — zum Beispiel als Artist-in-Residence bei Facebook — und ist eng in Berührung gekommen mit dieser heißgelaufenen Szene der Digital Economy. Gleichzeitig hat sie niemals aufgehört, ihre Heimat zu leben und auf die Schönheiten jener Bioregion, wie sie es nennt, zu achten.
Diese beiden Welten wirken in ihrer Beschreibung wie zwei Pole, die nicht weiter voneinander entfernt sein könnten: am einen Ende die Highspeed-Welt der 24/7-Economy; am anderen Ende die überbordende Vielfalt und der Reichtum der Natur, welche trotz ihrer Schönheit in jedem Moment in ihrer Existenz bedroht ist. Genau hier, in der Natur, findet die Autorin ihren mentalen Ausgleich, findet sie, was man schon vor zweitausend Jahren ataraxia oder auch Muße nannte. Ataraxia bedeutet die Abwesenheit von Aufregung — also Ruhe. Damit war vor allem die Seelenruhe gemeint, jene gelassene Stabilität und das perfekte Gleichgewicht von Körper, Geist und Seele, wie es beispielsweise die griechische Philosophenschule der Stoa lehrte.
Modern gewendet, findet man heutzutage jene Seelenruhe vor allem im Rückzug aus dem hektischen Alltag, in der bewusst gesuchten oder genommenen Auszeit vom 24/7. Auszeit ist eigentlich ein seltsames Wort und es führt uns in die falsche Richtung. Denn eine Auszeit wäre ja eine Zeit außerhalb der normalen Zeit — und somit eine Unmöglichkeit. Wir stellen uns die Zeit als ein Kontinuum vor, und die Physik hat diese Vorstellung immer wieder bestätigt, selbst wenn Einstein die Relativität der Zeit in verschiedenen Systemen bewiesen hat. Wir können die Zeit dehnen oder komprimieren, je nachdem wie schnell wir uns relativ zu dem jeweiligen Beobachter bewegen, doch für uns selbst bleibt die Zeit immer gleich schnell.
Unser individuelles Zeitempfinden sagt uns etwas anderes. Wir alle kennen Wartezeiten, die sich ewig lang hinziehen, während die schönen und aufregenden Stunden wie im Fluge vorbei rauschen. Also ist es für unser subjektives Empfinden genau umgekehrt: Je schneller wir uns bewegen, desto schneller vergeht auch die Zeit. Daher ist gerade unser eigenes Zeitempfinden relativ, während die offizielle Zeit scheinbar immer und überall gleich ist.
Doch genau darum geht es auch in Odells Buch. Sie plädiert für einen bewussteren Umgang mit der Zeit (und mit dem Raum, also mit der Welt, die uns umgibt). Wer die meiste Zeit auf Flachbildschirme oder auf sein Smartphone starrt, ist überall anwesend, nur nicht dort, wo er oder sie sich gerade befindet. Die Internetwelt ist kein Ort, an dem wir uns aufhalten können, sondern diese virtuellen Orte sind das, was Marc Augé Nicht-Orte nennt. Als der französische Philosoph diesen Begriff in den 1990er Jahren prägte, hatte er u.a. Flughäfen und Bahnhöfe im Sinn, also Orte, an denen wir uns nicht wirklich aufhalten, sondern auf der Durchreise sind, Transit-Bereiche des Lebens.
Überträgt man diesen Gedanken auf die virtuellen Scheinwelten des Internets, so ist der transitorische Charakter dieser „Aufenthaltsorte“ offensichtlich. Wo befindet man sich denn, wenn man gerade auf Facebook oder YouTube ist!? Ein Leben im Online-Modus ist ein Leben, das nicht Fisch, nicht Fleisch ist: Man ist nicht mehr an dem Ort präsent, an dem man sich gerade befindet (der Schreibtisch, das Auto, die Bahn, das Café, der Arbeitsplatz); und man kann physisch auch nicht an jenen tausend virtuellen Orten anwesend sein, zwischen denen man per Click hin und her springt.
Jenny Odell ist Künstlerin und Schriftstellerin. Auf die Frage, welche Art von Kunst sie denn macht, antwortet sie gerne: Kontextualisierung. Vereinfacht gesagt, bringt sie Dinge in Zusammenhang. Im übertragenen Sinne möchte sie dasselbe mit ihrem Buch, das eigentlich aus einer Sammlung mehrerer längerer Essays besteht, erreichen: Sie möchte Denkanstöße geben, die den LeserInnen zur Reflexion des eigenen Verhaltens animieren sollen. Zunächst kritisiert sie den digitalen Lebensstil ihrer Generation und zeichnet ihr eigenes Verhalten während jener beruflichen Phase im Herzen der Digital Economy nach.
Solche Beschreibungen eigenen Verhaltens können dem Leser helfen, Parallelen zum eigenen Leben zu ziehen, und so sind sie in der Lage, den Denkprozess in Gang zu setzen, dessen es bedarf, um sich alternative Verhaltensweisen vorzustellen und für das eigene Leben durchzuspielen. Wie bei einem amerikanischen Sachbuch nicht anders zu erwarten, ist die Lesersansprache sehr persönlich und auch der Schreibstil sehr flüssig. Dies macht die Lektüre einfach und angenehm.
Was soll man also gegen den Terror des kapitalistischen Systems der Vermarktung von allem und jedem tun? Jenny Odells Antwort klingt so einfach wie revolutionär: nichts. Wie kann man ein System— oder ein Narrativ — verändern, indem man nichts tut?! Das klingt zunächst paradox. Doch nichts tun kann sehr subversiv sein. Denn die Aufmerksamkeitsökonomie ist existenziell darauf angewiesen, dass wir ständig etwas tun. Die permanente Aktivität aller sorgt für jenen beständigen Strom an Daten, mit denen diese Unternehmen ihr Geld verdienen.
Sie versorgen uns mit allerlei nützlichen, sinnvollen und sinnlosen kleinen Helferlein-Apps, die unser Leben — unser Denken, Arbeiten, Alltags-, Freizeit-, Familien- und Liebesleben — erleichtern (sollen). Diese Apps nehmen uns das Denken und das Erinnern ab, und die vielen Social-Media-Plattformen sorgen dafür, dass wir mit unseren Freunden (und mit den Servern der Unternehmen dahinter) in Kontakt bleiben.
Was aus Sicht der Digital Economy als Win-Win-Situation propagiert wird, macht uns alle zu digital slaves jener Internetkonzerne. Das tut in Regel nicht weh, ist sogar für die meisten von uns ein angenehmes Sklavenleben; aber es bleibt eben doch, von außen betrachtet, genau das: ein versklavtes, fremdbestimmtes Leben.
Schon lange haben wir dieses im Grunde absurde Verhalten trainiert und empfinden den Aufenthalt in der Internetwelt als „normal“. Wenn wir dann nach Stunden im Cyberspace den Kopf heben und aus dem Fenster schauen, kann nicht selten der Eindruck entstehen, dass wir in eine seltsam entvölkerte analoge Wirklichkeit blicken. Draußen weht der Wind in den Bäumen, die Wolken ziehen vorbei, auf der Wiese vor dem Haus sitzen zwei Krähen und suchen nach Essbarem. Menschen mit Hunden gehen vorüber. Im Hintergrund ist die Straße zu sehen, auf der einige Autos fahren.
Was ist das für eine Welt? Und was hat sie mit jener Welt zu tun, in der ich mich während der vergangenen zwei Stunden aufgehalten habe? Wo war ich? Hier in der analogen Welt mit ihren Schneckentempo und der völligen Abwesenheit von relevanten Informationen und den coolen Tweets meiner Freunde? Oder war ich nicht viel mehr dort, im Cyberspace, im virtuellen Überall, mal hier, mal dort, aber immer da, wo die Musik spielt?
Wenn etwas nicht weh tut, bedeutet das noch lange nicht, dass es okay ist. Es ist der Wunsch der Autorin, bei den LeserInnen das Bewusstsein zu wecken für die Unnatürlichkeit jener Lebensweise. Das Ziel ihrer knapp 300 Seiten langen Argumentation ist es, jenes Bewusstsein zu schärfen und einen Prozess des Hinterfragens zu initiieren. Der dauerhafte Aufenthalt in der Internetwelt ist nicht normal. Er kann zu pathologischen Verhaltensweisen und zu einer gestörten Wahrnehmung der echten Welt führen.
Das Allheilmittel ist für die Autorin der bewusste Ausstieg aus der digitalen Routine und die Hinwendung zur analogen Wirklichkeit. Auch diese Erkenntnis ist nicht neu, denken wir an Rousseau, an Thoreau oder einfach nur an die Peripatetiker in der Antike: Das Spazieren — Wandeln, Gehen, Wandern, Leben — in der Natur (in Odells Bioregion) lüftet den Denkkasten aus und bringt die Gedanken in Fluss. Aber der bewusste Aufenthalt in der Natur ist auch in der Lage, uns aus dem Grübeln und digitalen Schuften zu befreien. Modern gesprochen: Die analoge Welt da draußen (hinter und neben den Bildschirmen) ist disruptiv!
Für wen also ist dieses Buch geeignet? Zunächst sind es die Menschen im Alter von Jenny Odell, also die Generation um die 30, die sich selbst und ihre Lebenswelt in diesem Buch wiederfinden werden. Es ist und bleibt natürlich eine vor allem amerikanische Sicht auf die Welt, aber was heißt das schon in einer Zeit globalisierter Narrative?! — Ein erweiterter Leserkreis wird auch in anderen Altersgruppen zu finden sein. Wer sich täglich zu viel im Internet aufhält, dort nicht nur arbeitet, sondern auch seine vielseitigen Formen von Alltagskommunikation abwickelt, kann aus diesem Buch lernen, wie man sich vor einem Overload schützen und den Kontakt zur Jetztwelt behalten bzw. wiederherstellen kann.
„Nichts tun“ ist ein unterhaltsames Sachbuch, in dem der weite Bogen geschlagen wird von Kunst zur Philosophie, von Wirtschaft bis zu Fragen der individuellen Lebensgestaltung. Durch die gelungene Übersetzung von Annabel Zettel liegt dem deutschen Lesepublikum nun ein relativ neuer Titel (2019) vor, der uns die Möglichkeit gibt, an den aktuellen Diskussionen der anglo-amerikanischen Intellektuellen-Szene teilzunehmen.
Autor: Jenny Odell
Titel: „Nichts tun“
Herausgeber: C.H.Beck; 1. Edition (22. Februar 2021)
Gebundene Ausgabe: 296 Seiten
ISBN-10: 3406768318
ISBN-13: 978-3406768316