Je weiter man bei der Lektüre dieses spannenden Sachbuchs voranschreitet, desto bewusster wird einem, dass wir in einer Gesellschaft leben, die von Grund auf durch ein wirtschaftliches Denken geprägt ist, welches mit jener Wirklichkeit, die wir ganz unvoreingenommen und ganz für uns wahrnehmen, nicht viel zu tun hat.
Das ganze Szenario lässt sich mit wenigen Schlagworten aus der Wirtschaftssprache beschreiben: die Idee vom homo oeconomicus, TINA (there is no alternative), Neoliberalismus.
Der englische Universitätsprofessor Jonathan Aldred hat (in guter englischer Manier) ein fesselndes Buch zu der Frage geschrieben, welche Auswirkungen das wirtschaftliche Denken des Mainstreams auf unser ethisches Verhalten hat. Er greift dabei nicht nur weit in die Vergangenheit der Wirtschaftsgeschichte zurück, sondern auch in jene stilistische Trickkiste, welche man so gerne auch so manchem deutschen Sachbuchautor neben den Schreibtisch stellen möchte:
Er erzählt Geschichten, anstatt den Leser mit Fakten-Fakten-Fakten zu langweilen; er macht (Wirtschafts-)Geschichte greifbar, indem er den historischen Kontext erleuchtet; er zeichnet ambivalente Charaktere und macht aus der Forschungslandschaft ein Feld der Intrigen und Machtkämpfe; er zeigt Zusammenhänge auf, und macht den Leser neugierig, wie diese Geschichte wohl weitergehen wird (…)
Mit anderen Worten bringt Aldred Licht in die ansonsten verschlossenen und sorgsam abgedunkelten Hinterzimmer der Wirtschaftswissenschaften, zeigt die engsten Verflechtungen von Politik und Think Tanks, von Forschungsabteilungen und genialen Einzelkämpfern. Dieses Buch liest sich wie ein Wirtschaftskrimi — ja, manchmal wie ein historischer Roman aus der jüngeren Vergangenheit.
Kennen Sie die RAND Corporation? Haben Sie schon einmal etwas von dem Institute of Economic Affairs gehört? Und sagen Ihnen die Namen John Maynard Keynes, Milton Friedman, August von Hayek, John Nash und Mancur Olson etwas? — Falls nicht oder wenn Sie nur eine diffuse Ahnung haben, wird an dieser Stelle nur verraten, dass alle soeben Genannten einen fundamentalen Einfluss auf unser aller Alltagsleben haben. Sie sind mit dafür verantwortlich, dass diese Welt, in der wir leben, genau so beschaffen ist, wie sie ist.
Die Grundidee des homo oeconomicus ist die Vorstellung, dass wir Menschen unsere Entscheidungen rational treffen (sollten). Diese Grundidee ist ja nicht völlig falsch, wird es aber, sobald wir sie generalisieren, also alle Menschen meinen und alle Entscheidungen als rational voraussetzen. Das ist natürlich Quatsch, wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, aber es ist eben auch die Grundlage vieler Wirtschaftstheorien.
Der Primat der Wirtschaft hat in unserer vom Kapitalismus geprägten und durchdrungenen Gesellschaft dazu geführt, dass wir dazu neigen (sollen), alle Lebensbereiche — auch Soziales und die Politik — durch eine wirtschaftliche Brille zu betrachten und zu beurteilen. Das Wort von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche charakterisiert den Zustand unserer Welt.
Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts begann sich ein Netzwerk zu formieren — an Universitäten und in Lobby-Instituten, in der Forschung und politiknahen Stiftungen —, mit dem Ziel einer möglichst liberalen Wirtschaftspolitik. Oder noch deutlicher: mit dem Ziel einer freien Wirtschaft, welche weitestgehend von politischer Einflussnahme befreit ist.
Der freie Markt, so das Dogma, reguliert sich selbst. Diese Selbstregulierung des Marktes wird durch den Eingriff des Staates nur behindert. Der Staat hat sich auch als Arbeitgeber nicht bewährt, und so ist aus der Sicht der Neoliberalen die Forderung nach einer möglichst umfassenden Privatisierung aller staatlichen Unternehmen.
In den 1980er Jahren waren Margaret Thatcher und Ronald Reagan das Dreamteam der neoliberalen Wirtschaftswissenschaft; sie setzten in den USA und in Großbritannien das neoliberale Privatisierungs- und Lockerungsprogramm mit aller Kraft um — mit den bekannten fatalen Folgen für den Arbeitsmarkt und die staatliche Versorgung. Doch der Weg zu einer totalen Liberalisierung der Märkte war dadurch geebnet. Mit der Globalisierung erhielt diese turbokapitalistische Ausrichtung der Wirtschaft einen weiteren Schub und trat ihren Siegeszug um die Welt an.
Heute leben wir in einer Welt, die durch eine ökonomistische Sicht auf alle Lebensbereichen gekennzeichnet ist. Durch die Digitalisierung von Dienstleistungen aller Art und durch die Bereitschaft der Nutzer von digitalen Diensten, freiwillig ihre Daten zur Verfügung zu stellen, scheint sich der Traum von einer schrankenlosen und alles umfassenden Ökonomisierung erfüllt zu haben.
Wir alle (oder zumindest die meisten von uns) nutzen permanent die digitalen Datennetze und binden sie in unser tägliches Leben ein. Oder genauer, eigentlich ist es umgekehrt: Wir richten unser Leben nach diesen Daten aus und orientieren uns an ihnen.
Jonathan Aldred zeigt in seinem faszinierenden Buch, wie es dazu kommen konnte, dass wir uns in einer von der Wirtschaft dominierten Wirklichkeit befinden, und er weist akribisch nach, wie dieser fundamentale Strukturwandel unserer Gesellschaft von langer Hand geplant und mit welchem politischen Nachdruck er verfolgt wurde.
Das alles klingt sehr nach Verschwörungstheorien. Aber hier sind weder Marsmenschen noch Geheimbünde am Werk, sondern Wissenschaftler und Politiker, Forscher und Lobbyisten, Interessenverbände und politiknahe Stiftungen. Wer sich (wie der Autor) die Arbeit macht, einmal hinter die Kulissen zu schauen und nachzuforschen, wird entdecken, dass hier ein komplexes Netzwerk seine Arbeit verrichtet und seine Interessen verfolgt.
„Der korrumpierte Mensch“ — das sind wir, Sie und ich. Die Lektüre dieses Buches kann Ihnen die Augen öffnen. Auch der lange Weg zur Veränderung beginnt mit einem ersten Schritt, und dieser Schritt besteht darin zu erkennen, wo man steht. Dies ist der Weg zur Selbsterkenntnis. Wenn wir diesen Schritt gehen, können wir darüber nachdenken, wie Alternativen aussehen könnten. Denn die altbekannte und wie ein Mantra stets wiederholte Rede von der Alternativlosigkeit von politischen Entscheidungsprozessen — jenes berüchtigte TINA (There is no Alternative) — ist und bleibt eine Erfindung neoliberaler Politik.
Autor: Jonathan Aldred
Titel: „Der korrumpierte Mensch — Die ethischen Folgen wirtschaftlichen Denkens“
Herausgeber: Klett-Cotta
Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
ISBN-10: 360898237X
ISBN-13: 978-3608982374