Rebekka Reinhard: „Wach denken — Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch“

Die Philosophin Rebekka Reinhard ist bekannt für ihren praktischen und lebensnahen Ansatz. Ihre Bücher befassen sich mit ethischen Fragen und behandeln aktuelle Themen aus einer philosophischen Perspektive. Dies ist auch in ihrem neuen Buch „WACH DENKEN“ nicht anders. — Worum geht es?

Die Autorin kritisiert das Entweder-Oder-Denken, das seit dem Siegeszug der Digitalisierung von vielen Menschen Besitz ergriffen hat. Schuld sind die Smartphones und die sie steuernden Algorithmen. Die tägliche Benutzung und nahezu vollständige Einbindung von digitalen Helferlein — kleinen, praktischen Apps — hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf uns Denken. Wenn wir diese digitalen Hilfsmittel als Ersatz für unsere eigenen Denkleistungen verwenden, kurz: Wenn wir uns allein auf sie verlassen, so sind wir am Ende von allen guten Geistern verlassen.

Natürlich ist die Digitalisierung der Welt nur die konsequente Folge der Quantifizierung und Monetarisierung aller Lebensbereiche, doch was hilft uns diese Erkenntnis?!

Ein natürlicher Reflex ist, dagegen zu argumentieren und den Gebrauch dieser digitalen Hilfsmittel zu verteidigen. Klar, viele Apps sind praktisch, sparen eine Menge Zeit, und man kann diese Smartphones dazu verwenden, sich von vielen Aufgaben zu entlasten: Das Smartphone erinnert mich an wichtige Termine, es hilft mir bei der Erstellung von Einkaufslisten, erleichtert meine Kommunikation auf allen Kanälen und füttert mich stets mit den neuesten Nachrichten über diejenigen Themen, welche mich am meisten interessieren.

Diese Liste ist nicht vollständig, zeigt aber, in welche Richtung sich unser Verhältnis zu den digitalen Diensten schnell entwickeln kann: Wir liefern uns freiwillig diesen Algorithmen aus, wir liefern bereitwillig unsere Daten und erhalten im Gegenzug jede nur vorstellbare Unterstützung für unsere täglichen Entscheidungen. Mit anderen Worten: Wir machen uns abhängig von diesen elektronischen Geräten und ersetzen unsere menschliche Vernunft durch die binäre Logik der Algorithmen.

Die Welt der Computer und ihrer Programme folgt jener Entweder-Oder-Logik, die keine Zwischentöne erträgt. Grauzonen und ein Sowohl-als-Auch sind in dieser binären Welt nicht vorgesehen. Wenn das Eine falsch ist, muss das Andere richtig sein. Und eben nur dieses eine Andere und nicht noch ein Drittes oder Viertes! Es gibt in dieser Logik nur „Null“ und „Eins“, „An“ oder „Aus“, „Richtig“ oder „Falsch“. So funktionieren Computerprogramme; aber die reale Welt, die uns umgibt, ist zum Glück nicht nach einem solchen Schwarzweiß-Muster aufgebaut.

In einer Welt des Entweder-Oder ist kein Platz für Lösungsansätze, die einen Möglichkeitsraum eröffnen. Es gibt immer nur eine einzige Antwort, die richtig ist. Diese Ausschließlichkeit ist verführerisch, denn sie macht das Leben und die Welt sehr einfach und überschaubar.

Das Problem ist leider nur, dass es eine solche Binarität zwar in der digitalen Welt gibt, aber eben nicht in der realen Welt. Sobald wir den Blick von unseren Flachbildschirmen abwenden und aus dem Fenster schauen, sehen wir in eine Welt der Zwischentöne, in eine Welt der unendlichen Möglichkeiten. Für die meisten Probleme, die wir haben, gibt es eben keine eindeutigen Lösungen. Und nicht auf jede Frage gibt es nur eine einzige Antwort.

Zum Glück sind wir Menschen mit einem Verstand ausgestattet, der uns ermöglicht, die Welt in ihrer Komplexität zu erfassen und Antworten auf die unzähligen Fragen zu finden, die sich uns täglich stellen. Wenn es um die Lösung von komplexen Problemen geht, können wir unseren Verstand einschalten und uns eines sehr machtvollen Werkzeugs bedienen: unserer Vernunft.

Doch leider tendieren wir Menschen meistens dazu, den bequemsten Weg zu wählen. Der Gebrauch der Vernunft ist anstrengend; und warum sollten wir uns den Kopf zermartern, wenn wir mit einer smarten Unterstützung viel leichter zu einer Lösung finden!?

Warum sollten wir? — Weil die schnellen Lösungen und Antworten aus der binären Entweder-Oder-Welt nur in den seltensten Fällen die besten sind. Weil der zeitgemäße Vernunftgebrauch uns viel mehr Spielraum gibt, zu individuellen Lösungen zu kommen, die uns nicht nur fundierter (und vernünftiger), sondern auch flexibler auf jene komplexen Situationen reagieren lassen, mit denen uns das Leben konfrontiert.

Rebekka Reinhard plädiert in ihrem wunderbar flott und mit viel persönlichem Engagement geschriebenen Buch für einen solch zeitgemäßen Vernunftgebrauch. Bei aller Leidenschaftlichkeit der Autorin vergisst sie niemals, ihre Argumentation durch gut recherchierte Fakten und ein solides Fachwissen zu untermauern. „WACH DENKEN“ liest sich trotzdem wie eine Kampfschrift; das Buch ist eine Apologie unserer menschlichen Vernunft im Angesicht einer omnipräsenten digitalen Verblödungs-Maschinerie, die es schon weit gebracht hat: Das Internet und die sozialen Medien sind aus unserem Alltag längst nicht mehr wegzudenken, und unser Umgang mit diesen Medien ist für die meisten von uns selbstverständlich geworden.

Doch ist es nicht zu hart, den digitalen Technologien vorzuwerfen, zur allgemeinen Verblödung beizutragen? Sind wir nicht selbst schuld, wenn wir uns blind auf diese Technologien verlassen? Ist denn Technologie nicht grundsätzlich wertfrei, und verfolgt sie nicht einfach nur die Absicht, unser aller Leben zu erleichtern? — Rebekka Reinhard geht es in ihrem Buch nicht um eine Generalabrechnung mit Amazon, Facebook & Co.; sondern sie interessiert sich für die Frage, welchen Einfluss das Internet und die binäre Logik der Algorithmen auf unser Denken und letztlich auf jene zentrale Eigenschaft unseres Mensch-Seins hat — auf das, was uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet: die menschliche Fähigkeit, von unserer Vernunft Gebrauch zu machen.

Auf knapp 200 Seiten zeigt Rebekka Reinhard nicht nur, wie sehr die „Computer-Logik“ der Maschinen zur Verblödung unserer Vernunft beitragen, sondern — und das ist der wichtigere Teil des Buches! — sie zeigt auch, wie wir aus diesem digitalen Dilemma wieder ausbrechen und zu einem neuen, zeitgemäßen Vernunftgebrauch zurückkehren können.

Machen Sie doch einmal den Selbstversuch und lassen Sie Ihr Smartphone für einen ganzen Tag ausgeschaltet. Versuchen Sie mal einen ganzen Tag in Ihrem Leben auch unter diesen erschwerten Bedingungen rein analog zu verbringen und gleichzeitig „am Ball“ zu bleiben und nicht abgehängt zu werden! — Schnell werden Sie merken, wie sehr wir uns einerseits in die Abhängigkeit von diesen Technologien begeben haben und wie sehr wir sie andererseits benutzen, um effizienter zu sein.

Doch Effizienz ist nicht alles. Viele Lebensbereiche folgen eben gerade nicht dem ökonomischen Prinzip der maximalen Effizienz. Wenn wir jedoch die binäre Logik unreflektiert auf alle Lebensbereiche anwenden, weil es ja so bequem scheint, zerstören wir letzten Endes nur den Reichtum einer realen Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit des Lebens. Unser Denken wird „dumpf“, wird künstlich vereinfacht, simplifiziert, und an die Stelle der menschlichen Vernunft tritt die „Computer-Logik“ der einfachen Lösungen.

Vielleicht wird den Leser zu Beginn dieses Buches der wütende und aufgebrachte Ton der Autorin zunächst irritieren. Sobald man sich aber an die leidenschaftliche Argumentationsweise gewöhnt hat, macht die Lektüre nicht nur Spaß, sondern ist äußerst unterhaltsam und erhellend. „WACH DENKEN“ gehört sicherlich zu den spannendsten und wichtigsten Neuerscheinungen in diesem Herbst.

Lesen Sie dieses Buch und lernen Sie, wieder öfter ohne die Unterstützung Ihres Smartphones sich Ihres eigenen Verstandes zu bedienen! Wir Menschen sind vernunftbegabte Wesen; wir haben es nur (fast) verlernt, von unserer Vernunft Gebrauch zu machen. Es geht nicht um den völligen Verzicht auf die digitalen Helferlein, sondern darum, die digitalen Technologien vernünftig und nur in jenen Bereichen einzusetzen, wo sie uns wirklich unterstützen können.

 

 

 

Autor: Rebekka Reinhard
Titel: „Wach denken — Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch“
Herausgeber: Edition Körber
Gebundene Ausgabe: 200 Seiten
ISBN-10: 389684282X
ISBN-13: 978-3896842824