Der Mittagsschlaf gehört vielleicht zu den subversivsten Handlungen unserer Gegenwart. Das Primat eines auf Effizienz und Produktivität hin optimierten Lebens lässt den Gedanken an eine Auszeit mitten am Tage undenkbar erscheinen.
Doch im Frühjahr 2020 kam Corona. Mit dem Virus kamen der Lockdown und das Home Office, und mit ihnen kam es auch zu einer überraschenden Renaissance des Mittagsschläfchens. Denn die Menschen brauchen den Schlaf, behauptet zumindest der Philosoph und emeritierter Professor für Urbanistik in seinem kleinen Büchlein „Die Kunst des Mittagsschlafs“ (L’Art de la sieste“), das jetzt im Steidl Verlag erschienen ist.
Dieses schmale Bändchen ist mal wieder ein guter Beleg dafür, dass schlaue und schlau machende Bücher nicht dick sein müssen — ganz im Gegenteil! Ein fähiger Autor, der sein Metier beherrscht, ist in der Lage, sein Wissen auch in komprimierter Form zu teilen — oder sollte es zumindest sein.
Paquot führt uns auf seinen Weg durch die Kunstgeschichte, die er mit seiner subjektiven Auswahl an Gemälden als eine Kulturgeschichte des Mittagsschlafs erzählt. Die wahre Kunst des Mittagsschlafs zeigt sich im jeweiligen historischen Kontext; in heutiger Zeit liegt diese Kunst sicherlich in der aktiven Verweigerung des Leistungsprinzips — und sei es auch nur vorübergehend.
Auch die Chronobiologie bestätigt die Vermutung, dass der Mensch ursprünglich nicht für eine Dauerbelastung „Nine to Five“ gemacht ist, sondern immer wieder Pausen braucht, sowohl körperliche als auch schöpferische.
Wer sich einen Mittagsschlaf gönnt, tut nicht nur etwas für seine Gesundheit, sondern er nutzt diese selbstgewählte Auszeit als ein Regulativ seiner Work-Life-Balance. Doch hier befinden wir uns auch schon wieder in jenem allgegenwärtigen Echoraum einer leistungsmaximierten und marktkonformen kapitalistischen Ethik.
Die Corona-Pandemie eröffnet uns als disruptives Jahrhundert-Ereignis die Möglichkeit, das bislang gültige Dispositiv zu hinterfragen und unsere Verhaltensweisen sowohl individuell als auch kollektiv zu verändern. Immer öfter und häufiger taucht die Frage auf, ob wir so weitermachen wollen wie bisher. — Ist die wirtschaftliche Fortschrittslogik wirklich alternativlos? — Ist Wachstum Fortschritt oder eine Überstrapazierung der Ressourcen?
Der Autor holt in seinem Essay gar nicht so weit aus, sondern konzentriert sich vielmehr auf die subjektive Kunst der Siesta. Das Ausruhen und Schlafen mitten am Tage wurde erst durch den Siegeszug des Kapitalismus zu einem Skandalon; zuvor war es einfach normal, von der Arbeit auszuruhen, ein Päuschen zu machen.
So widmet sich auch das kurze letzte Kapitel bewusst dem „Mittagsschlaf als Widerstand“. Protest kann viele Ausdrucksformen für sich finden, warum also nicht auch die Siesta als eine Form des passiven Widerstands? Wer schläft, arbeitet nicht, verweigert sich dementsprechend dem Diktat der größtmöglichen Effizienz. Wer sich dem Zeit-Diktat entzieht, indem er fortan beschließt, sich nicht mehr nach einem von außen verordneten Zeitplan und -muster zu richten, der erobert sich seine Zeit zurück.
Mit jener zurückeroberten Zeit kann der Mittagsschläfer und selbsternannte Müßiggänger nach eigenem Ermessen umgehen, er kann plötzlich wieder frei über sie verfügen. Ebenso wie eine Rückeroberung der Zeit könnte uns übrigens auch eine Rückeroberung des Raumes sehr von Nutzen sein: Indem wir uns den Raum wieder zurückerobern, der uns durch die Sogwirkung der allgegenwärtigen virtuellen Welten entrissen wurde, in denen wir uns dank unserer Smartphones permanent aufhalten, eröffnen wir uns auch wieder die gestalterischen Möglichkeiten eines analogen und re-materialisierten Lebens in der Gegenwart — in dem, was wir Realität nennen. — Aber dies ist ein anderes Thema und gehört auch nicht hierher.
Thierry Paquots Essay erschien bereits vor über zwanzig Jahren, im Jahr 1998. Mit anderen Worten schrieb er seinen Text in einer Zeit vor der Internetblase, dem Y2K und vor dem 11. September. Faszinierend ist die Tatsache, dass sein Text trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb.) heute so ansprechend ist. Nicht zuletzt kommen wir in diesem Jahr (2020) immer wieder auf die radikalen Auswirkungen der Corona-Pandemie zu sprechen, die unser aller Leben grundlegend verändert, auch wenn zurzeit gerne von einem „New Normal“ gesprochen wird.
Gerade wenn die Welt da draußen immer unübersichtlicher und in gewissem Sinne auch feindseliger zu werden scheint, ist es vielleicht eine gute Idee, das eigene Leben im Rahmen der Möglichkeiten neu auszurichten. Es kann auch nicht schaden, in Zukunft noch mehr auf die eigene Gesundheit zu achten, egal wir alt man ist. — Das kleine Ritual eines regelmäßigen Mittagsschlafs wäre ein guter Anfang.
Autor: Thierry Paquot
Titel: „Die Kunst des Mittagsschlafs“
Taschenbuch: 96 Seiten
Verlag: Steidl GmbH & Co. OHG
ISBN-10: 3958297706
ISBN-13: 978-3958297708