Valentin Groebner: „Ferienmüde — Als das Reisen nicht mehr geholfen hat“

Schon vor der Corona-Krise ist das Reisen zu einem gesellschaftlichen Problem geworden.

So schön es ist, reisend die Welt zu erkunden und hierbei im besten Falle nicht nur neue Weltgegenden, sondern auch sich selbst zu entdecken, so sehr ist der Massentourismus zu einem gesellschaftlicchen und vor allem zu einem ökologischen Problem geworden.

Valentin Groebner ist Österreicher und von Hause aus Historiker, aber in diesem kleinen, schlauen Büchlein erweist er sich erneut als ein kenntnisreicher Kulturwissenschaftler und begnadeter Essayist. Zu viel des Lobes? – Wohl kaum. Denn dem Autor gelingt mit diesem Essay auf 150 Seiten, wofür seine Kollegen mindestens drei Mal so viel Text benötigen, um am Ende nicht einmal ein vergleichbares Ergebnis zu erzielen.

Die Krux im deutschen Wissenschaftsbetrieb besteht nach wie vor in der verschwurbelten und auf Hermetik ausgerichteten Sprache seiner Protagonisten. Nach wie vor legen es viele Wisenschaftler auf eine möglichst esoterische Wissenschaftssprache an, die vor allem der eigenen Eitelkeit dient und einen Status der Erhabenheit vortäuschen soll, die der Verfasser in der Wissenschaftslandschaft einnehmen soll bzw möchte.

Nicht ohne Grund hatte Groebner vor einigen Jahren (2018) ein schönes Buch über die Wissenschaftssprache geschrieben, in dem er sich auch über die Unart seiner Kollegen mokiert, unleserliche Texte zu fabrizieren, die von niemandem wirklich gelesen geschweige denn verstanden werden. Auch wenn es der eine oder die andere vielleicht nicht mehr hören kann oder will: Die angelsächsische Tradition des essay writing zeigt uns, dass es auch anders geht. Hier schreibt man, um verstanden zu werden, und nicht, um einfach nur zu publizieren.

In eben dieser Tradition steht auch der vorliegende Text über die Ferienmüdigkeit. – Genau genommen sind wir ja gar nicht ferienmüde, sondern aufgrund von Corona dazu verdammt, die Ferien als ein Relikt der Vergangenheit anzusehen — oder besser gesagt: die Ferien neu zu definieren. Groebner schreibt in seinem Buch viele schlaue Sätze, darunter zum Beispiel den folgenden: „So sind Ferien. Ich erhalte ein sehr leistungsstarkes Instrument geschenkt, eine Wunderwaffe des Wohlergehens. Hier öfter ich sie gebrauchen, desto mehr verwandelt sie sich in eine Bedingung, in eine erstarrte feste Hülle.“

Dieser kleine Essay bietet eine erfrischende Lektüre — gerade auch jetzt in der Zeit des Sommerurlaubs — und lässt dem Leser viel Raum zum Nachdenken. Wie habe ich bislang meine Ferien verbracht? Warum habe ich Ferien verbracht? Was ist der wahre, tiefe, persönliche Sinn dahinter? — Habe ich meine Urlaubsorte wirklich selbst gewählt? Oder ging es nicht vielmehr um eine Erweiterung meiner Selbstdarstellung? Bin ich nach Paris, Venedig, London oder auf die Malediven gereist, weil ich mich für diese Weltgegenden interessiere, oder vielleicht doch nur, um dann mit den entsprechenden Bildern meines Urlaubs das eigene Instagram-Profil auf den neuesten Stand zu bringen?

Gerade diese Medialität des Reisens nimmt in Groebners kleiner Analyse zurecht einen zentralen Punkt ein. Ferienfotos wurden schon immer gemacht, seit es Fotoapparate gibt. Das Reisebild soll nicht nur belegen, dass man selbst und leibhaftig an diesem ikonischen Ort (Rialto-Brücke, Eiffelturm, Times Square) gewesen ist, sondern vor allem, dass man an diesen touristischen Hotspots eine unheimlich gute Zeit und jede Menge Spaß gehabt hat. Das Reisefoto (und hier ganz besonders das Selfie) wird gleichzeitig zu einem Mittel der Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung: Es kann (und darf!) gar nicht anders sein, als dass ich hier eine wundervolle Zeit habe!

Um diesen massenhaften Bedürfnissen nach Selbstbestätigung gerecht zu werden, hat sich — ganz nach den Regeln des kapitalistischen Wirtschaftssystems — eine Tourismus-Industrie entwickelt, welche sich der Befriedigung jedes scheinbar noch so individuellen Wunsches verpflichtet fühlt. Groebner schreibt in diesem Zusammenhang: „Tourismus fühlt sich wie eine Privatsache an, aber es ist keine. Tourismus ist jene Industrie, die von sich sagt, dass sie das genaue Gegenteil einer Industrie sei.“ Wer kurz innehält und ehrlich auf die komplexen und durchorganisierten Strukturen der touristischen Angebote schaut, wird dieser Aussage zustimmen.

Selbst Individualreisen werden durch diese Industrie geplant und finden innerhalb einer exklusiv touristischen Ebene statt. Als Tourist bin ich automatisch gefangen in einer Art „Layer“ der touristischen Angebote und Dienstleistungen. ich bewege mich auf der Oberfläche der Dinge, der fremden orte und Attraktionen; ein EIntauchen in diese fremde Welt wird mir als Tourist zwar versprochen und vorgespiegelt, aber sie ist zu keinem Zeitpunkt wirkich möglich. Um es soziologisch auszudrücken, ich übernehme als Tourist die Rolle des Außenstehenden, die Rolle des „Fremden“ (nach Georg Simmel), der letztlich auch von den Einheimischen gebraucht wird, zur Selbstvergewisserung der eigenen Identität ebenso wie zur Abgrenzung ihm gegenüber.

Es ist also kompliziert. Und seitdem uns dieses kleine Virus das Leben, wie es bislang war, jenes Höher-Schneller-Weiter in allen Lebensbereichen so richtig verhagelt hat, ist auch der Urlaub, die „schönste Zeit des Jahres“, zu einer problematischen und teilweise tabuisierten Verhaltensweise geworden, die grundsätzlich, also fundamental, zur Disposition steht.

Wir können also nicht mehr wie bisher „Urlaub machen“. Wer dennoch weiterhin auf Ballermann, Kreuzfahrt oder Wochenend-Städtetrip besteht, muss künftig eher mit einem Verlust seines sozialen Kapitals — zumindest in manchen sozialen Kreisen. Denn wir wussten und wissen es ja eigentlich schon lange: Der Tourismus schafft nicht nur Arbeitsplätze in den Feriengebieten, sondern trägt als globale Industrie nachhaltig zur Zerstörung von Umwelt und Kultur sowie zum übermäßigen und unverhältnismäßigen Verbrauch von Ressourcen bei.

Wie immer, so ist auch beim Tourismus ein Abwägen der Vor- und Nachteile angesagt. Natürlich weist auch Valentin Groebner in seinem schlauen Essay auf diese Problematiken hin. Doch sein Schwerpunkt liegt woanders, nämlich auf den sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen des touristischen Verhaltens sowie auf seinen eigentlichen Ursachen.

„Wegfahren ist Wiedergutmachung“, schreibt Groebner. Ferien „sind geschrumpelte Lebensprojekte, die man nur in ministurisierter und infantilisiertet Form nachspielen kann, aber deswegen umso hartnäckiger verteidigt.“ Aus dieser Perspektive sind Ferien im Grunde traurige Entlarvungen unseres unzureichenden und ereignislosen Lebens. Weil wir nicht den Mut aufbringen, unser Leben radikal an unseren Träumen zu orientieren und zu ändern, was zu ändern ist (den Lebensort, den Lebensstil, den Beruf, die Partnerschaft), werfen wir uns in aller Verzweiflung auf jene 2-3 Wochen Ferien, die es dann für uns richten soll, die ganze Malaise beheben, das falsche Leben ins richtige verwandeln und uns vor einem stumpfsinnigen und sinnlosen Leben bewahren soll.

Diese Aufladung und Überfrachtung der Urlaubszeit mit all unseren Sehnsüchten und Träumen, jene Selbstüberforderung kann nur spielerisch und kindisch zu einer Erlösung und Reinigung kommen. Die Übertreibung bis hin zur Maßlosigkeit ist der Reflex des an der eigenen Existenz verzweifelnden Individuums, die vorübergehende Auflösung seiner Individualität im kollektiven Loslassen der Balsam für die durch den erbarmungslosen Takt der Leistungsgesellschaft geschundene Seele.

Wer diesen 150 Seiten langen Essay über die Ferienmüdigkeit mit offenem Verstand liest, wird einen großen Nutzen daraus ziehen. Denn Groebner sortiert in diesem Text nicht nur seine eigenen Gedanken, sondern liefert mit diesem kleinen Büchlein auch eine wunderbare Vorlage für die individuelle Auseinandersetzung mit drm eigenen Reise- und Ferien-Verhalten.

Mit seiner Hilfe können und sollten wir uns die Frage stellen, warum, ob und wie wir in Zukunft noch Ferien machen wollen, denn wir befinden uns seit dem Frühjahr 2020 in einer gesellschaftlichen Umbruchphase. Zurückblickend wird man von einer Zeit sprechen, „als das Reisen nicht mehr geholfen hat“.

 

Autor: Valentin Groebner
Titel: „Ferienmüde — Als das Reisen nicht mehr geholfen hat“
Gebundene Ausgabe: 152 Seiten
Verlag: Konstanz University Press
ISBN-10: 3835391267
ISBN-13: 978-3835391260