Harald Welzer: „Alles könnte anders sein — Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“

Geht es um gesellschaftspolitische Fragen, so ist Harald Welzer in der Regel nicht weit. Es gibt im deutschsprachigen Raum wohl kaum einen Wissenschaftler, der so rührig ist und seine tiefschürfenden und wichtigen Gedanken in ebenso leicht verständliche als auch wissenschaftlich fundierte Worte fassen kann, wie Harald Welzer.

Somit ist es keine große Überraschung, mit „Alles könnte anders sein“ einen weiteren Titel des Autors im Verlag S. Fischer zu entdecken, der sich einem aktuellen Thema widmet: dem Fehlen einer tragfähigen und praktikablen Gesellschaftsutopie für unsere an positiven Zukunftsvisionen so armen Gegenwart.

Wir sind alle sehr gut darin, die Zukunft schwarz zu malen: Alles ist furchtbar, der Klimawandel, die Verschmutzung der Weltmeere, die Zerstörung der Natur unseres Planeten, die Verstopfung der Innenstädte durch den Autoverkehr, die Zuwanderung, die Digitalisierung aller Lebensbereiche, Krieg und Krankheiten usw.

Angeblich sind gerade wir Deutschen Weltmeister im Jammern und Schwarzsehen. Wie kann dann einer wie Harald Welzer daherkommen und uns das Jammern und Schwarzsehen so vermiesen?! Denn ganz im Gegensatz zur Phalanx der Wissenschaftler, Autoren und Auguren, die alle mehr oder weniger in dasselbe Horn blasen und uns von einer Zukunft überzeugen wollen, in der alles schlechter wird, traut sich Welzer, die Position des distanzierten Beobachters einzunehmen und das ganze Szenario mit einem freien Kopf zu betrachten.

Bei seiner nüchternen Analyse der Gegenwart und der Entwicklung einer tragfähigen Zukunftsvision bedient sich der Autor eines Kinderspiels: LEGO. Während sich viele Autoren hinter der lapidaren Feststellung verstecken, dass die Probleme der Gegenwart viel zu komplex seien, als dass man heutzutage noch eine realistische Vision für die Zukunft (oder gar eine Utopie!) entwickeln könne, geht Harald Welzer erfrischend anders mit dem Problem der Komplexität um: Er spielt mit den Bausteinen unserer komplexen Realität LEGO!

In gewisser Weise steht diese Methode somit in der Tradition des Szientismus im 17. Jahrhundert; Universalgelehrte wie Galileo Galilei haben das Verfahren des Auseinander-Nehmens (ordo resolutivus) und des Wieder-Zusammensetzens (ordo compositivus) angewandt, um naturwissenschaftlichen Phänomenen auf die Spur zu kommen.

Die Idee dahinter war so einfach wie genial: Wenn man ein komplexes Ding (z.B. eine Maschine) in seine Einzelteile zerlegt und diese Einzelteile in ihrer Funktion versteht, kann man auch das komplexe Ding als solches in seiner Funktionsweise verstehen. Ähnlich macht es der Sozialpsychologe und Soziologe Harald Welzer mit den gesellschaftlichen Phänomenen unserer Zeit …

Harald Welzer zerlegt also unsere komplexe Realität in ihre Einzelteile und untersucht mit frischem Geist und unverstelltem Blick, wie diese Einzelteile funktionieren. — Noch wichtiger: Er untersucht, was eben gerade nicht funktioniert, und wie man es besser machen könnte!

So geht es also in diesem Buch nach einer gut siebzig Seiten umfassenden theoretischen Einleitung, die übrigens sehr leicht und anregend zu lesen ist, im zweiten Teil vor allem darum, mit diesen insgesamt 17 LEGO-Bausteinen eine neue Gesellschaftsutopie zu entwickeln und eine alternative Wirklichkeit zu erschaffen, mit der unsere Welt eben nicht dem Untergang geweiht ist, sondern sich zum Positiven verändern lässt.

Wirtschaft, Autonomie, Arbeit, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Solidarität, Mobilität, Beziehungen, Freundlichkeit, Zeit, Institutionen, Infrastrukturen und letztlich auch der Sinn vom Ganzen: Das sind die Lebensbereiche, um die es dem Autor und um die es in diesem Buch geht.

Schon in vielen seiner vorherigen Bücher hat sich Harald Welzer als ein Autor/Wissenschaftler gezeigt, der sich auch nicht vor „großen“ Themen (Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Solidarität, Nachhaltigkeit) fürchtet, sondern auch hier stets seine ideologisch unverstellte Beobachtungsgabe mit einer gewissen Lust am Provozieren sowie einer guten Portion Selbstironie verbindet.

Auf diese Weise liest sich auch der neue Titel (wie die allermeisten vorhergehenden) nicht nur wunderbar leicht und unterhaltsam, sondern ist auch in erster Linie wieder als ein Praxisbuch gedacht, mit dessen Hilfe der Leser zu einer Verhaltensänderung motiviert werden soll.

Die Lust an der Veränderung, der Spaß daran, sich selbst und sein Handeln neu und selbst zu denken, das gute Gefühl, nicht mehr nur als Zuschauer den Untergang der alten Welt erleben zu müssen, sondern mit dem eigenen Handeln am Bau einer neuen und schöneren Welt mitwirken zu können — dies alles wird beim Leser geweckt, solange er aufmerksam, bereit und offen ist für Veränderungen.

„Alles könnte anders ein“ klingt eben auch anders als „Alles wird anders werden“. Es klingt nach Autonomie, nach Gestaltungsspielräumen und Gestaltungsfreiheit. Und es klingt nicht nur so, sondern macht auch in ganz praktischer Weise deutlich, wie sehr es in unser aller eigenen Hände liegen könnte, unsere Welt auch in Zukunft zu einer lebenswerten Welt zu machen. — Letztlich liegt es an uns selbst, wie die Zukunft aussehen wird. Denn: „Alles könnte anders sein“, als es sich momentan entwickelt. Schon allein diese Erkenntnis macht Mut und Lust, etwas zu ändern und anders zu machen.

 

 

 

Autor: Harald Welzer
Titel: „Alles könnte anders sein — Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: S. Fischer
ISBN-10: 3103974019
ISBN-13: 978-3103974010