Im Sommer 2019 lädt die Alte Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin zu einer großen Impressionisten-Schau. Im Mittelpunkt steht eine Person, die weniger bekannt ist als die berühmten Impressionisten Renoir, Manet, Monet, Pissarro, Degas oder Cezanne, und doch war Gustave Caillebotte eine zentrale Figur, die als Mäzen zum einflussreichen Wegbereiter für die Anerkennung des Impressionismus als moderne Kunst in Frankreich wurde und gleichzeitig als impressionistischer Maler eine ganze Reihe von bedeutenden Werken schuf, die uns heute durch ihre Komposition und Motivauswahl beeindrucken.
Der Alten Nationalgalerie in Berlin ist es gelungen, Caillebottes vielleicht bekanntestes Bild — „Rue de Paris, temps de pluie“ (Straße in Paris, Regenwetter) von 1877 — als Leihgabe vom Art Institute of Chicago für diese Ausstellung zu entleihen. Um dieses Bild herum wird die Ausstellung mit Bildern der französischen Impressionisten aus der umfangreichen Sammlung der Nationalgalerie gestaltet, die in direkter Beziehung zu Caillebotte standen.
Was in der Ausstellung zu sehen ist, wird durch den begleitenden Katalog, der im bekannten Hirmer-Verlag publiziert wurde, in hervorragender Weise ergänzt. Eine historische Einleitung und weiterführende Essays zu einzelnen Schwerpunkten geben dem Leser die Möglichkeit, dem durch die Ausstellung geweckten Interesse an dem Maler-Mäzen nachzugehen und sein Wissen zu vertiefen.
Das zentrale Bild der Ausstellung ist sicherlich die bereits erwähnte Pariser Straßenszene („Rue de Paris, temps de pluie“), die schon allein durch ihre Größe beeindruckt: 212 x 276 cm misst das Gemälde und zeigt die auf ihr abgebildeten Personen fast in Originalgröße. Die Komposition ist so angelegt, dass der Betrachter regelrecht ins Bild hineingezogen wird; eine distanzierte Betrachtung der Szenerie ist kaum möglich.
Was den Maler Caillebotte auch gegenüber den meisten zeitgenössischen Malern auszeichnet, ist sein Blick für den Moment. Wir müssen uns an dieser Stelle vergegenwärtigen, dass die noch relativ junge Reproduktionstechnik der Fotografie seinerzeit technisch noch nicht in der Lage war, mit kurzen Belichtungszeiten zu arbeiten und spontane Momentaufnahmen zu machen.
Gleichwohl hatte die Fotografie bereits den Blick der Künstler auf die Welt verändert. Je weiter die Fototechnik voranschritt, desto stärker ist die künstlerische Auseinandersetzung mit diesem neuen Medium auch in der Malerei zu erkennen. Caillebotte darf als einer der Ersten gelten, der seine Gemälde mit einem fotografischen Blick für den Moment komponierte.
Seine Bilder verblüffen den heutigen Betrachter durch ihre Perspektive, die Cadrage sowie Lichtführung, die manchmal an Schnappschüsse erinnern, wie sie erst Jahrzehnte später in der 1920er Jahren durch die Einführung kleiner handlicher Kameras, wie die Leica, möglich wurden. Vergleicht man die Straßenfotografien eines Henri Cartier-Bresson mit den Bilder Caillebottes, erkennt man schnell die Verwandtschaft.
Doch Gustave Caillebotte war nicht nur als Künstler eine wichtige Figur des französischen Impressionismus. Aufgrund einer Erbschaft war er vermögend und konnte sich in Künstlerkreisen und unter seinen zahlreichen Maler-Freunden auch immer wieder als Mäzen betätigen, indem er deren Bilder kaufte. So erwarb Caillebotte nach und nach eine umfangreiche Sammlung an impressionistischen Werken — zu einer Zeit, als diese Kunstrichtung noch längst nicht anerkannt war und vor allem von den Kunstrichtern der Akademie abgelehnt wurde. Als Caillebotte testamentarisch verfügte, dass seine Sammlung als Schenkung an den französischen Staat gehen sollte, führte das in Museumskreisen zu heftigen Diskussionen.
Caillebottes Testament verfügte, dass die Bilder zunächst im Musée du Luxembourg und später im Louvre ausgestellt werden sollten. Für die Ausführung dieser Verfügung räumte er bereits im Testament einen Zeitraum von „zwanzig Jahren oder mehr“ ein, denn er war sich bewusst, dass die Zeit für die öffentliche Anerkennung der Impressionisten noch nicht gekommen war.
Letztlich hat sich Caillebottes Schenkung als großer Segen für die französischen Kunstsammlungen herausgestellt; seinerzeit bildete sie den Grundstock für das Musée d´Orsay. Man darf zurecht behaupten, dass die Kunstgeschichte ohne Caillebottes Einfluss einen anderen Verlauf genommen hätte. Zwar gab es auch in Deutschland (Tschudi) und anderen Ländern Sammler und Kunsthistoriker, welche die Bedeutung des Impressionismus als moderne Kunstrichtung schon früh erkannten; doch im französischen Mutterland war Gustave Caillebotte ohne Zweifel der zentrale Förderer jener jungen Künstler.
Der vorliegende Bildband kann sowohl als Begleitung zur Ausstellung gelesen werden als auch unabhängig von ihr. Buchtechnisch hervorragend gestaltet und mit hochwertigen Reproduktion versehen, bietet er eine konzise Einführung in das Leben und Werk des Doppel-Talents Gustave Caillebotte, der als Maler-Mäzen des Impressionismus spätestens jetzt zu jener öffentlichen Beachtung gelangt, die seiner kunstgeschichtlichen Bedeutung entspricht.
Autor: Ralph Gleis (Hg.)
Titel: „Gustave Caillebotte — Maler und Mäzen des Impressionismus“
Taschenbuch: 120 Seiten
Verlag: Hirmer
ISBN-10: 3777433225
ISBN-13: 978-3777433226