Daniel Defoe: „Robinson Crusoe“

An Robinson Crusoe kommt niemand vorbei. Die Geschichte des Schiffbrüchigen, der sich auf einer (fast) einsamen Insel nach und nach seine eigene kleine Welt aufbaut, dürfte jeder von uns als Kind oder Jugendlicher gelesen haben. Defoes „Robinson“ gehört zum festen Kanon der Kinder- und Jugendliteratur, wie „Die Schatzinsel“, „In 80 Tagen um die Welt“, „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ oder „Huckleberry Finn“.

Man kann diesen Roman lesen wie eine Abenteuergeschichte; aber man kann ihn auch als Erwachsener aus seinem kultur- und geistesgeschichtlichen Kontext heraus lesen.

Daniel Defoe schrieb seinen „Robinson Crusoe“ im Jahr 1719. Damals befand sich nicht nur England, sondern weite Teile Europas in einer kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbruchstimmung. Es war die Epoche der Aufklärung, von der Kant an ihrem Ende (1784) schreiben wird, dass sich in diesem Zeitalter der „Austritt des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ vollzieht.

Das 18. Jahrhundert war das Jahrhundert der Entdeckungen, der Wissenschaften und des vernünftigen Gebrauchs des eigenen Verstandes. In England führt die lange Whig-Periode mit ihrem großen liberalen Einfluss während der ersten hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer starken Belebung des Wirtschafts- und des Geisteslebens. Mit den Philosophen John Locke und David Hume erlangt der Empirismus seine größte Bedeutung.

In dieses Geistesbild einer auf Erfahrungen basierenden Erkenntnis passt auch die Faszination des Lesepublikums für solche Erfahrungsberichte wie den „Robinson Crusoe“. Daniel Defoes Roman war nicht nur ein echter Bestseller, sondern wurde schon bald auch als Archetyp einer neuen literarischen Gattung, den Robinsonaden, rezipiert. Ganz im Stil der Zeit konstruierte Defoe seinen scheinbar autobiographischen Erfahrungsbericht mit Hilfe einer Herausgeber-Fiktion, welche die Wahrhaftigkeit dieser fantastisch anmutenden Erzählung bekräftigen sollte.

Eine reale Vorlage für Robinson Crusoe war die Geschichte von Alexander Selkirk; dieser hatte sich — sozusagen als Selbstversuch — 1704 von einem Schiff auf einer einsamen Insel aussetzen lassen und war erst nach sieben Jahren wieder in seine britische Heimat zurückgekehrt. Dort erzählte er seine wundersamen Erlebnisse einem Journalisten: Daniel Defoe.

„Robinson Crusoe“ ist in den allermeisten Fällen (sowohl im englischen Original als auch in den unzähligen Übersetzungen in andere Sprachen) mehr oder weniger radikal gekürzt und umgeschrieben worden. Auch in Deutschland begann man schon früh (die erste erschien bereits 1720), Defoes Roman zum Kinderbuch und Abenteuerroman umzuschreiben.

Pünktlich zum 300. Jubiläum erscheint nun im Mare-Verlag eine bibliophile Ausgabe des vollständigen Textes in Neuübersetzung von Rudolf Mast und mit Kommentar. Somit haben wir erstmals die Gelegenheit, diesen Text, der sehr viel mehr ist als nur eine Seefahrer-Geschichte, in einer Form zu lesen, die dem englischen Original von 1719 entspricht.

Bei der Lektüre wird schnell klar, dass es sich bei dem Ich-Erzähler um einen gutsituierten englischen Gentleman handelt, der mit einfachsten Mitteln versucht, sich eine eigene Zivilisation zu bauen.

Kurz zur Erinnerung: Zivilisation und Kultur (civilisation / culture) sind im englischen und deutschen Sprachgebrauch „vertauscht“; was wir als Kultur bezeichnen, nennt der Engländer „civilisation“, und umgekehrt ist „culture“ für ihn lediglich, was wir als Zivilisation bezeichnen.

Demnach geht es also im „Robinson Crusoe“ um nichts Geringeres als um den autonomen Gebrauch der eigenen Vernunft zum Ziele der Kultivierung des Menschen und der Welt, die ihn umgibt. Also geht es um das ganz aufklärerische Programm: die Kultivierung und Aufklärung des Wilden und den Sieg der Vernunft über die Gewalten der Natur.

Die Lektüre dieses spannenden Romans wird jedem Leser — gerade auch dem erwachsenen Leser — empfohlen; Defoes mehr oder weniger bekannte Bericht von der einsamen Insel wird in seiner vollständigen Textausgabe durch zahlreiche Reflexionen und Exkurse aufgelockert, die nicht selten als eine Gesellschaftskritik der englischen Verhältnisse im frühen 18. Jahrhundert zu lesen sind.

 

 

Autor: Daniel Defoe
Titel: „Robinson Crusoe“
Gebundene Ausgabe: 400 Seiten
Verlag: Mare Verlag
ISBN-10: 3866482914
ISBN-13: 978-3866482913