Während der Lektüre dieses schönen kleinen Buches passiert etwas Eigenartiges: Der Leser wird zunächst durch den feinsinnigen Stil und den ruhigen Sprachduktus regelrecht entschleunigt: Das Alltagstempo fällt von ihm ab und er kommt zur Ruhe. Dann jedoch bemerkt er an sich eine Veränderung: Zunächst nur klein und unscheinbar, meldet sich eine innere Stimme, die den Wunsch nach Bewegung artikuliert.
Während wir täglich durch unser Leben hasten, getrieben von Terminen und Deadlines — also von Linien des Todes —, nehmen wir längst keine Notiz mehr von der Welt, die uns umgibt. Sind wir mal durch den stockenden Verkehr zu Wartezeiten verdammt, so geht der Blick in der Regel nach unten, aufs Smartphone, und eben nicht nach vorne.
Die Welt um uns herum im Hier und Jetzt interessiert uns nicht, ja, darf uns nicht interessieren oder ablenken, denn wir sind ja permanent mit dem Organisieren unserer zukünftigen Termine beschäftigt. Wer den Kopf hebt und den Blick schweifen lässt, wer also unproduktiv einfach nur schaut, hat im Wettbewerb aller gegen alle schon verloren.
Titus Müller lässt uns mit seinem neuen Buch „Einfach mal spazieren gehen“ den Kopf heben. Es ist ein sehr persönlich geschriebenes Buch, entstanden aus der eigenen Erfahrung des Getrieben-Seins. Es ist ein Buch zum Innehalten und Nachdenken. Es ist der Erfahrungsbericht von einem, der auszog, das Spazierengehen wieder neu zu erlenen.
Wir begleiten den Autor auf seinen Spaziergängen zu allen Jahreszeiten und an allen Orten, in der Stadt und auf dem Land, im Wald und in der Natur sowie auf den belebten Straßen und Plätzen der Großstadt. Das Fazit: Spazieren gehen kann jeder, ob er jung oder alt ist, und er oder sie kann es nicht nur, sondern sollte es unbedingt tun! Denn mit jedem Spaziergang bringen wir uns mit der Welt wieder in Verbindung, sind nicht mehr „in Gedanken“, sondern im Hier und Jetzt, ganz gegenwärtig!
Die Botschaft ist so simpel wie genial: Wer spazieren geht, hat mehr vom Leben! Man sollte meinen, dass unsere supermobile und volldigitale Welt es den Menschen leicht machen müsse, sich draußen an der frischen Luft aufzuhalten und mehr Zeit zu haben als früher, weil sich unsere Arbeit mit diesen schicken kleinen digitalen Helferlein doch so komfortabel und schnell organisieren lässt; doch genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Wer schneller arbeitet, arbeitet nicht weniger, sondern bewältigt einfach nur noch mehr Arbeit in derselben Zeit, und am besten arbeitet er gleich ohne Werkssirene oder Feierabend rund um die Uhr, 24/7 und ohne Pause …
Diesem ganzen Optimierungs- und Effizienz-Wahnsinn setzt Titus Müller sein Programm des regelmäßigen Spaziergangs entgegen; es liest sich fast ein wenig wie eine subversive Strategie zur Unterwanderung der Arbeitsethik unserer spätkapitalistischen Dauerproduktivität: An die Stelle der strebsamen Selbstverpflichtung setzt der Autor den Spaß und die Freude an der Natur!
Mit seinem Motto — „Einfach mal spazieren gehen“ — fordert der Autor uns nicht zu einer übertriebenen Kulturkritik auf, sondern er will uns einfach mitnehmen auf seine Entdeckungsreisen durch die Natur. Wer spazieren geht, lüftet seinen Hirnkasten ordentlich aus und macht Platz für neue, kreative Gedanken. Diese Erkenntnis ist wahrlich nicht neu — man denke nur an die Schule der Peripatetiker im antiken Griechenland —, doch wir halten uns heute ja für viel schlauer und bezweifeln den Sinn einer „bewegten Auszeit“. Wer heute einfach nur spazieren geht, so die landläufige Meinung, verschwendet seine Zeit.
Was wir aber alles entdecken können, wenn wir quasi sinnfrei — also mit freien Sinnen! —durch die Welt spazieren, erzählt uns dieses kleine, verzaubernde Buch von Titus Müller. Kleiner Tipp zum Schluss: Erst lesen und dann spazieren gehen! — Wer spazieren geht, verändert nicht nur seinen Standpunkt, sondern auch seinen Blick auf die Dinge.
Autor: Titus Müller
Titel: „Einfach mal spazieren gehen“
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Arche Literatur Verlag
ISBN-10: 3716027790
ISBN-13: 978-3716027790