Im Fontane-Jahr 2019 wird der Buchmarkt anlässlich des 200. Geburtstags Theodor Fontanes mit einer ganzen Reihe von Biografien geflutet. Viele sind hervorragend geschrieben, entsprechen den hohen Anforderungen des heutigen Lesepublikums an den Biografen und gewähren einen mehr als umfassenden Einblick in das Leben und Werk Fontanes.
Doch eine Biografie sticht aus der Menge heraus und überstrahlt sie alle: die Biografie des Berliner Literaturwissenschaftlers und Historikers Iwan-Michelangelo D´Aprile. Die Gründe für diese Sonderstellung sind schnell benannt: Zum einen gelingt es D´Aprile, das Leben und Wirken Fontanes nicht einfach nur in chronologischer Abfolge der wichtigsten Stationen isoliert zu beschreiben, sondern es in den tiefgreifenden Umwälzungsprozess einzubetten, in den alle gesellschaftlichen Teilbereiche im Laufe des 19. Jahrhunderts einbezogen waren; zum anderen hebt sich der Autor durch die Schönheit seiner Sprache und die Klarheit seiner Formulierungen vom Gros der anderen Biografen ab.
Der Berliner Literaturwissenschaftler und Historiker Iwan-Michelangelo D´Aprile lehrt als Professor für „Kulturen der Aufklärung“ an der Universität Potsdam; er hat zum 18. Jahrhundert und zur Geschichte des Journalismus sowie zur Kulturgeschichte Berlins im 19. Jahrhundert publiziert. Seine Fontane-Biografie passt also thematisch durchaus zu seinen Interessen und Forschungsschwerpunkten.
Mit Fontane ist es so eine Sache. Es gibt eine Menge autobiographischer Texte und schriftlicher Selbstaussagen, denen man jedoch nicht immer (oder besser: nur selten) zu hundert Prozent trauen kann. Zu sehr neigte Fontane dazu, die wahren Spuren der Vergangenheit zu verwischen und durch im Nachhinein verklärte und beschönigte Versionen zu ersetzen.
Viel aussagekräftiger sind seine Briefe, die dem Biografen in einem Umfang zur Verfügung stehen, wie man ihn von einem Literaten des 19. Jahrhundert erwarten kann. Nicht alle Biografen nehmen diese gewaltige Aufgabe des intensiven Studiums des Briefwechsels auf sich; D´Aprile hat es jedoch getan. Das Ergebnis ist entsprechend überzeugend; sein Buch liefert ein ungeschöntes Bild des großen Romanciers und zeigt, wie steinig und schwierig der Weg vom Apotheker zum erfolgreich Schriftsteller über weite Strecken war.
„Fontane — Ein Jahrhundert in Bewegung“ ist ein dickes Buch. Es beeindruckt allein durch seine Materialität, wenn es mit seinen 544 Seiten neben den schmaleren aktuellen Biografien auf dem Tisch liegt. Doch dieser Umfang sollte keinen Leser abschrecken, ganz im Gegenteil! Denn man bekommt mit diesem Buch nicht einfach nur eine Fontane-Biografie in die Hand, sondern der Text ist in der Lage, dem Leser die Welt des 19. Jahrhunderts in ihren vielen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und künstlerischen Facetten zu erschließen.
So begegnet uns nicht nur der junge Apotheker Fontane, der Journalist und Kriegsberichterstatter, der Revolutionär von 1848, der Korrespondent im Staatsdienst oder letztendlich der hauptberufliche Schriftsteller —, sondern wir tauchen auch ein in eine vergangene Welt, die uns ohne die helfende Hand des Autors fremd erscheinen und verschlossen bleiben muss. So geht es uns bei vielen der neuen Fontane-Biografien, bei D´Aprile allerdings ist es anders: Hier sind wir, im übertragenen Sinne, in guten Händen, denn er verbindet stets das Leben und das Wirken Fontanes mit seiner damaligen Lebenswelt und schafft auf diese Weise ein vielschichtiges und detailliertes Gemälde aus Raum und Zeit des 19. Jahrhunderts.
Vielleicht am nächsten kommt diesem Werk die bei C. H. Beck erschienene Biografie „Theodor Fontane — Der Romancier Preußens“ des emeritierten Professors für Literaturwissenschaft an der TU Berlin, Hans Dieter Zimmermann. Eine Besprechung dieser Fontane-Biografie finden Sie hier. — Auch Zimmermann geht in seiner Lebensbeschreibung weit über den engen Rahmen einer Biografie hinaus und liefert einen guten Einblick in die gesellschaftliche Realität des 19. Jahrhunderts. Doch sein Text bleibt näher an Fontanes Lebensstationen und dem direkten Umfeld und liefert dem Leser weniger Hintergrundwissen über den gesamtgesellschaftlichen Wandel jener Zeit.
Es bleibt letztlich dem individuellen Geschmack des Lesers vorbehalten, für welchen Titel er sich entscheidet. Bei Hans Dieter Zimmermann bekommt er eine schön geschriebene und gut recherchierte Fontane-Biografie auf den Tisch; Iwan-Michelangelo D´Apriles „Fontane — Ein Jahrhundert in Bewegung“ hingegen ist ein Buch für alle, die sich noch mehr auf jene Zeit einlassen und in Fontanes Lebenswelt eintauchen möchten. Sie werden Zeuge eines bewegten Lebens in einem Jahrhundert in Bewegung, das überreich an umwälzenden Erfindungen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen war — ein Jahrhundert, in dem Theodor Fontane von 1819 bis 1898 gelebt und das er vor allem in seinen letzten Lebensjahrzehnten literarisch mitgeprägt hat.
Autor: Iwan-Michelangelo D´Aprile
Titel: „Fontane — Ein Jahrhundert in Bewegung“
Gebundene Ausgabe: 544 Seiten
Verlag: Rowohlt Buchverlag
ISBN-10: 3498000993
ISBN-13: 978-3498000998