Jewgeni Wodolaskin: „Luftgänger“

Die Ausgangssituation kennt man so oder ähnlich aus unzähligen Romanen und Filmen: Ein Mann wacht in einem Krankenhaus-Bett auf und hat sein Gedächtnis verloren, kann sich an nichts erinnern: nicht an seinen Unfall, nicht an seinen Namen, seine Freunde, sein Leben. Die Vergangenheit ist wie ausgelöscht.

Was aus einer gewissen Perspektive für manchen verlockend klingen mag — das Vergangene ist ausradiert und man könnte wieder bei Null beginnen —, wird in Wirklichkeit für die meisten Betroffenen zum Höllentrip. Wenn alle Erinnerungen verloren sind, hat man dann wirklich gelebt?

Der Ich-Erzähler dieses Romans versucht mit Hilfe eines Notizbuchs, welches ihm der Arzt gibt, seine Erinnerungen aufzuschreiben und zu sortieren. Im Bett liegend, weil er zu schwach zum Aufstehen ist, beginnt er seine Puzzle-Arbeit und schreibt nach und nach auf, was ihm einfällt.

Mal taucht ein Name auf, mal ein Duft, mal ein Lachen, mal sieht er einen Weg, eine Straße, einen Raum, erinnert sich an einen Streit, ohne zu wissen, worum es darin ging. Fragmentarisch tauchen Menschen, Dinge, Situationen auf, wie auf einer Leinwand, auf der kurze Filmsequenzen zu sehen sind, die scheinbar zusammenhangslos hintereinander geschnitten wurden.

Es sind kleine Inseln der Erinnerung, zu denen der Ich-Erzähler reist. Nach und nach formen sie eine Landschaft, und die Erinnerungsarbeit wird zur Kartographie jener untergegangenen Welt. Das verlorene Gedächtnis hangelt sich von Detail zu Detail, verknüpft und kombiniert. Aus dieser Sicht liest sich Wodolaskins neuer Roman fast wie eine Detektivgeschichte.

Es ist aber auch ein Buch der Überschreibungen. Wie bei einem Palimpsest werden die Fragmente der Erinnerung nicht nur zueinander in Beziehung gesetzt, sondern auch immer wieder korrigiert und ergänzt. Am Ende steht das Mosaik eines langen Lebens mit all seinen Höhen und tiefen, schönen Erlebnissen und traumatischen Erfahrungen.

In einer sehr bildreichen Sprache und mit einer für die russische Stimme so typischen leichten Melancholie wandert er durch die russische und sowjetische Geschichte des 20. Jahrhunderts, erzählt aus der Ich-Perspektive des Innokenti Petrowitsch Platonow.

Jewgeni Wodolaskin ist Jahrgang 1964 und zählt seit vielen Jahren zu den bedeutendsten und einflussreichsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Sein Roman „Laurus“ war ein internationaler Bestseller und wurde in 20 Sprachen übersetzt. Auch der „Luftgänger“ wurde bisher in 14 Jahren übersetzt und ist nun im Aufbau-Verlag auf Deutsch erschienen.

Kongenial ins Deutsche übersetzt von Ganna-Maria Braungardt, ist „Luftgänger“ ein bemerkenswerter Roman und ein schönes Beispiel für die sprachliche Kraft und Lebendigkeit der zeitgenössischen Literatur in Russland. Ein berührendes Buch, eine bis in alle menschlichen Tiefen erzählte Geschichte, die ein Leben in seiner ganzen Fülle und von seinem Ende her beschreibt. Kurzum: ein neuer Wodolaskin, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte!

 

 

 

Autor: Jewgeni Wodolaskin
Titel: „Luftgänger“
Gebundene Ausgabe: 429 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag
ISBN-10: 335103704X
ISBN-13: 978-3351037048