Der Fotograf August Sander (1876-1964) ist zweifellos einer der bedeutendsten deutschen Fotografen des 20. Jahrhunderts. Charakteristisch für sein photographisches Werk sind vor allem seine Portraitaufnahmen, in denen er schon bald einen eigenen Stil entwickelte, der auch für viele andere Fotografen in der ganzen Welt zum Vorbild wurde.
August Sanders 1929 erschienenes Werk „Antlitz der Zeit“, das — neben vielen weiteren Aufnahmen — mit seinen 60 Portraits komplett in diesem Bildband enthalten ist, machte ihn berühmt. Ohne Übertreibung kann man es zusammen mit „Die Welt ist schön“ von Albert Renger-Patzsch und Karl Blossfeldts „Urformen der Kunst“ zu den Höhepunkten der Fotografie in der Weimarer Republik zählen.
Unter Anderem inspiriert durch die Schriften von Erich Haeckel suchte August Sander einen eher objektiven Ansatz für seine fotografische Arbeit. Es ging ihm um die Darstellung von Typen, Berufstypen und Menschentypen, um die Darstellung von Menschen also, die durch ihr soziales und berufliches Umfeld geprägt waren.
Dieser typologische Ansatz entsprach dem Zeitgeist und einer allgemeinen Tendenz weg vom Privaten und hin zum Typischen, der sich auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit widerspiegelte, die mehr auf kollektive denn auf subjektive Sichtweise abzielte. Die wissenschaftliche Betrachtungsweise hatte, wie es der zeitgenössische Kunsthistoriker Wolfgang Born ausdrückte, Allgemeingültigkeit erlangt.
Sein Kollege Willi Wolfradt formulierte: „Unser Interesse am Mitmenschen gilt wohl immer weniger der privaten Erscheinung in ihren einmaligen Eigentümlichkeiten — es widmet sich heute vorwiegend den typischen Zügen, aus denen in charakteristischer Weise die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe erkennbar wird.“ — Genau hierin war August Sander ein Meister seines Fachs.
Seine Portraits verleugnen nicht das Private, das Einzigartige der von ihm portraitierten Menschen. Doch darüber hinaus stehen diese Portraitierten auch gleichzeitig für Typen einer sozialen Gruppe, sei es der Maler, die junge Mutter, der Fleischer, der Witwer, der Apotheker, das Kaffeehausmädchen oder die Bettlerin.
August Sander war auf seine Art ein Sammler, dessen Sammelgebiet die zeitgenössische Gesellschaft mit ihrer Vielfalt von menschlichen Typen war. Er war sich wohl der Vergänglichkeit seines Zeitalters bewusst. Er sammelte — vielleicht ähnlich wie Eugène Atget das verlorene alte Paris auf seinen Filmplatten für die Nachwelt konservierte — die unterschiedlichen Menschentypen einer vom Untergang bedrohten Zeit.
Betrachten wir diese Bilder heute, so sehen wir nicht nur Menschen einer untergegangenen Welt, sondern schauen auch in Gesichter, deren Physiognomien zum größten Teil nicht mehr existieren. Die Menschen sahen damals anders aus als heute, was natürlich viele Ursachen und Gründe hat, die an dieser Stelle nicht zu erörtern sind, deren Tatsache deswegen jedoch nicht weniger faszinierend ist.
Sanders Blick auf die Menschen war in gewisser Weise auch ein literarischer. Die meisten seiner Portraits sind nicht spontan entstanden, sondern bis ins kleinste Detail arrangiert. Es ist die Hand des Künstlers, der hier gestaltend in die Komposition eingreift, und diese Eingriffe sind vergleichbar mit der Arbeit des Schriftstellers.
Auch dem Schriftsteller geht es beim Erzählen darum, über den Umweg der Beschreibung des Individuellen und Besonderen zum Allgemeinen und Typischen zu gelangen. Jede Figur in einem Roman steht, so individuell und einzigartig sie auch gezeichnet sein mag, immer auch an einem bestimmten Punkt der typologischen Skala von Persönlichkeitstypen.
Wäre dies nicht der Fall, würde man keinen Roman lesen und auch keinen Film ansehen wollen. Wozu sollte man dies tun? — Wir lesen Geschichten (und schauen Filme), um ihre Protagonisten in besonderen Lebenslagen zu sehen, wie sie exemplarisch und typisch handeln, um den Konflikt aufzulösen und Krisen zu bewältigen.
Aus diesen Geschichten können wir etwas lernen, weil wir das Gelesene/Gesehene als „typisch“ erkennen und ihr Verhalten im Ganzen oder in Teilen auf unsere eigene Lebenssituation übertragen können. — Es zeugt von der außerordentlich hohen künstlerischen Qualität seiner Portraits, dass uns eine solche Transferleistung auch mit den zeitlosen Fotografien von August Sander gelingt.
Dieser opulente Bildband wurde von der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur in Köln unter der Leitung von Gabriele Conrath-Scholl herausgegeben. Versehen mit einer ausführlichen Einführung in das Werk August Sanders, bietet diese Publikation mehr als nur einen Überblick über das Œuvre eines der bekanntesten deutschen Fotografen des 20. Jahrhunderts; vielmehr versammelt es erstmals dank hochwertiger Druck- und Reproduktionstechniken viele seiner Meisterwerke in bislang ungesehener Bildqualität.
Die alten Originalabzüge wurden farbig reproduziert und spiegeln so zum ersten Mal den Facettenreichtum der originalen Tönungen wider. Im Zusammenspiel zwischen natürlichen Alterungsprozessen, technischem Fortschritt und unterschiedlichen Materialeigenschaften der Abzüge sind echte Unikate entstanden, sozusagen Meisterwerke aus Meisterhand. Dieser Bildband gewährt einen unverfälschten Blick nicht nur auf die bemerkenswerte kompositorische Qualität der Portraits, sondern auch auf die künstlerische Arbeit des Fotografen in der Dunkelkammer. Die meisten der hier präsentierten Abzüge stammen entweder von August Sander selbst oder wurden von ihm in der Anfertigung beaufsichtigt.
„August Sander: Meisterwerke“ ragt somit aus den bisherigen Veröffentlichungen seiner Fotografien heraus. Es bietet dem Leser und Kunstliebhaber erstmals die Gelegenheit, anhand farbgetreuer und hochauflösender Reproduktionen der Original-Abzüge dem Schaffen dieses Meisterfotografen näher zu kommen als je zuvor.
Autor: Gabriele Conrath-Scholl
Titel: „August Sander — Meisterwerke“
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: Schirmer Mosel
ISBN-10: 9783829606738
ISBN-13: 978-3829606738