Katrin Wehry: „Quer durchs Tiergartenviertel —Das historische Quartier und seine Bewohner“

Walter Benjamin beschreibt in seiner „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ unter Anderem seine Kindheitserinnerungen an den alten Berliner Westen. Es war das Tiergartenviertel, in dem die alten Gründerzeit-Villen standen; doch die Geschichte dieses Viertel beginnt bereits früher, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Gegend um die St. Matthäus-Kirche noch nicht zum innerstädtischen Bereich zählte und die freistehenden Villen noch großzügig voneinander entfernt standen.

Die Anlage des Landwehrkanals mit seinen breiten begrünten Alleen beiderseits des Ufers sowie die Gestaltung eines Landschaftsgartens im Tiergarten durch Peter Joseph Lenné machten die Gegend attraktiv für wohlhabende Berliner, Fabrikanten und hohe Staatsbedienstete, die in diesem neuen Viertel genügend Platz für ihren repräsentativen Wohn- und Lebensstil fanden.

In den Salons im Tiergartenviertel trafen sich aber nicht nur Angehörige des Großbürgertums, sondern auch zahlreiche Künstler und Menschen aus anderen sozialen Schichten. Es wurde zum neuen kulturellen Hotspot in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die ansprechende innerstädtische Lage zwischen dem pulsierenden Potsdamer und Leipziger Platz und dem ruhigen Tiergarten machten das Tiergartenviertel zu einem attraktiven Wohngebiet.

Und wer hat hier nicht alles gewohnt! Adolph von Menzel, Tilla Durieux, Emil Rathenau, James Simon, Paul Cassirer, Herwarth Walden, Harry Graf Kessler, Lucian Bernhard, Felicie Bernstein, Benoit Oppenheim, Georg Kolbe, Max Liebermann, Julius Meier-Graefe, Alfred Flechtheim und viele Andere, die auch das vorliegende Buch nicht nennt. Doch die Auswahl ist auch so schon beeindruckend.

In diesem schönen Führer durch das historische Quartier werden die berühmten Bewohner und ihre herrschaftlichen Wohnräume auf wunderschönen Schwarzweiß-Fotos vorgestellt. Hinzu kommen noch einige Außenaufnahmen von berühmten Plätzen und Straßen des Viertels, wie der Bellevuestraße, der Potsdamer Brücke, dem Kemperplatz und natürlich dem Potsdamer Platz.

Der durchgehend zweisprachig (deutsch/englisch) verfasste Text ist sehr gut recherchiert und liefert dem Leser eine Menge an Informationen. Zusammen mit den historischen Fotos lassen sie ein kleines Sittengemälde jener Zeit vor unserem geistigen Auge entstehen, das ein bisschen wehmütig stimmt.

Jenes Viertel, heute „Tiergarten Süd“ genannt, ist im Zweiten Weltkrieg ziemlich gründlich dem Erdboden gleichgemacht worden. Den Rest erledigten dann die fortschrittlichen Architektur- und Stadtplanungen der 1950er bis 1970er Jahre. Das Kulturforum befindet sich ebenso an der Stelle des ehemaligen Tiergartenviertels wie die nach der Wende 1989 wieder instandgesetzten oder neu gebauten Botschaftsgebäude zahlreicher Länder; „Tiergarten Süd“ ist auch heute (wie schon vor dem Krieg) das Berliner „Diplomatenviertel“.

Wer sich auf eine (leicht melancholisch stimmende) Zeitreise in den alten Berliner Westen begeben möchte, ist mit der Lektüre von „Quer durchs Tiergartenviertel“ bestens beraten. Wer sich dann selbst auf die Spurensuche begeben möchte, findet auf Seite 21 einen Stadtplan-Ausschnitt von 1910, auf dem alle vorgestellten Wohnhäuser verzeichnet sind; wie viele davon der Spaziergänger heute noch ausfindig machen kann, hängt von seinem Spürsinn und seiner Fantasie ab.

 

 

Autor: Katrin Wehry
Titel: „Quer durchs Tiergartenviertel —Das historische Quartier und seine Bewohner“
Taschenbuch: 120 Seiten
Verlag: Michael Imhof Verlag
Sprache: Deutsch, Englisch
ISBN-10: 3731907895
ISBN-13: 978-3731907893