Kann ein Buch ein Haus sein? Wie ein Haus, in dem man über das Treppenhaus in die verschiedenen Stockwerke wandert, dort in die Wohnungen eintritt und von einer jeweils anderen Atmosphäre umfangen wird, gleichzeitig sich aber in diesem großen Haus weiß, das eine angenehme, ja gediegene Grundstimmung ausstrahlt und in dem man sich geborgen fühlt?
Péter Nádas ist eine der ganz Großen unter den ungarischen Schriftstellern. Man braucht ihn eigentlich nicht vorstellen, er sollte bekannt sein. Neben seinen zahlreichen erfolgreichen Romanen und Erzählungen hat Nádas viele bemerkenswerte Abhandlungen über Kunst verfasst — und eben auch Essays.
Die wichtigsten dieser Essays aus den Jahren 1989-2014 sind jetzt im Rowohlt Verlag unter dem Titel „Leni weint“ in einer wunderbaren gebundenen Ausgabe erschienen. Ja, dieses Buch ist wie ein Haus, in dem man wohnen kann und in dem man sich lange aufhalten mag.
Die Zeit von 1989 bis 2014 in Ungarn, diese sowohl räumliche als auch zeitliche Einfriedung macht schon deutlich, worin der Tenor all dieser Essays besteht: Zusammen betrachtet, erzählen diese Essays die leider recht kurze Geschichte der ungarischen Republik von ihrem Weg in die Freiheit und wieder zurück in die populistische Gegenwart mit ihrem antieuropäischen Nationalismus und Orbáns feuchtem Traum von einem neuen Magyaren-Reich.
Nádas ist ein guter Beobachter. Seine Essays sind immer hochpolitisch, auch wenn es um scheinbar belanglose Dinge geht. Immer gelingt es ihm, einen Bogen zu schlagen und das Kleine mit dem Großen und Ganzen zu verbinden. Stilistisch betrachtet, sind seine Essays ein ästhetischer Genuss, der weit und breit seinesgleichen sucht.
Diese Sammlung seiner wichtigsten Essays aus diesen zweieinhalb Dekaden unserer jüngsten Vergangenheit zeichnen nicht nur ein facettenreiches und klares Bild der ungarischen Gesellschaft und ihrer Träume, Sorgen und Ängste, sondern es lässt sich auch mit ein wenig Phantasie sehr gut als eine Art Lehrbuch lesen.
Denn so verschieden die Ausgangslagen von Ungarn und Deutschen im Wendejahr 1989 gewesen sein mögen, so finden sich auch immer wieder Parallelen in der Entwicklung. Insofern sollten wir lesen und verstehen, damit wir genauer hinschauen und lernen.
Autor: Péter Nádas
Titel: „Leni weint — Essays“
Gebundene Ausgabe: 528 Seiten
Verlag: Rowohlt Buchverlag
ISBN-10: 3498046993
ISBN-13: 978-3498046996