Robert Habeck: „Wer wir sein könnten — Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht“

Das politische Klima im Herbst 2018 ist kalt. Wenn bereits vor Jahren von einer gewissen allgemeinen „Politikverdrossenheit“ gesprochen wurde, so weiß man nicht recht, mit welchem Begriff man dasselbe Phänomen heute beschreiben sollte, in einer Zeit, wo sich mittlerweile nicht nur einige, sondern nahezu alle Bürger von der Politik — und vor allem von den Politikern abgewandt zu haben scheinen.

Die Große Koalition der alten Volksparteien war schon kurz nach ihrer Wiederwahl am Ende. Tagespolitisches Larvieren und inhaltsleere Parteiprogramme, das Hecheln nach Aufmerksamkeit und nach Prozentpunkten in den Umfragen, die bereitwillige Übernahme der Rolle eines beflissenen Erfüllungsgehilfen für die Auto- und Großindustrie — all das rächt sich jetzt und zeichnet sich deutlich ab in den Wählerumfragen.

Die alten Volksparteien wirken wie leere Saftpackungen. Auf die Wähler sind sie in etwa so anziehend wie diese, und ebenso wie diese haben sie dem kalten Wind, der uns seit einigen Jahren von rechts weht, nichts entgegenzusetzen. Entsprechend laut, aggressiv und nicht selten auch erfolgreich gehen die Rechtspopulisten auf Stimmenfang. Mit ihren aggressiven Tönen nehmen sie einen bewussten Bruch mit den kommunikativen Regeln einer parlamentarischen Demokratie nicht nur in Kauf, sondern verfolgen ihn zielstrebig.

Hassreden, der gezielte Gebrauch von toxischen Begriffen, die Provokation und die Verweigerung gegenüber den Grundregeln eines angemessenen und fairen Umgangs mit Andersdenkenden auf dem politischen Parkett gehören zu jener Strategie der Disruption, wie sie von Parteien wie der AfD verfolgt wird. Sie haben ihr Handwerk nicht nur, aber eben auch, bei den Nationalsozialisten gelernt.

Seitdem die großen Parteien immer kleiner werden, sich in Personaldiskussionen selbst dekonstruieren, anstatt sich um die anstehenden Aufgaben der politischen Agenda zu kümmern, sind es die Kleinen, die in der allgemeinen Wählergunst auf dem Vormarsch sind. Zu jenen „Kleinen“ zählen auch die Grünen, welche den Nimbus einer gewissen Unverbrauchtheit wiedergewonnen haben — nicht zuletzt, weil sie im Gegensatz zu anderen Parteien in den letzten Jahren eine gute Oppositionsarbeit geleistet haben.

Robert Habeck ist einer der beiden Vorsitzenden / Vorsitzendinnen (!) der Partei, und er ist Philologe sowie Doktor der Philosophie. Vor allem in dieser Eigenschaft meldet er sich nun zur rechten Zeit mit einem kleinen Büchlein, das im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist, zu Wort.

Es geht ihm um die politische Sprache und ihren Verfall. Es geht auch in diesem Zusammenhang um die Gefahr, welche für unsere Demokratie von jenen rechtspopulistischen und nationalistischen Kräften ausgeht, die ganz bewusst die politische Sprache für ihre zwecke einsetzen.

Längst haben sie mit einer Umwertung der Werte begonnen; sie drehen ihren politischen Gegnern das Wort im Munde um, wie man so schön treffend sagt. Es geht den Populisten um die Bekämpfung der liberalen Demokratie und ihrer Sprache.

Habecks Buch ist eine Bestandsaufnahme der sprachlichen Verfasstheit unserer Politik und unserer Gesellschaft im Jahre 2018. Als politischer Akteur ist er an vorderster Front dabei. — Der Front-Begriff ist an dieser Stelle durchaus berechtigt, denn die Kommunikationsstrategie der AfD ist eine klare Kampfansage an die etablierten Parteien, die weit über das übliche Maß an Opposition hinausgeht. Es ist kein Kampf um Inhalte, sondern um die Sprachhoheit.

„Wer wir sein könnten“, indem wir uns eine offene und vielfältige Sprache bewahren, impliziert immer die Vorfrage, wer wir denn sein „wollen“? — Geht es uns um die Verteidigung unserer Demokratie, die Wahrung unserer Rechte der freien Meinungsäußerung und der Gleichberechtigung unabhängig von Geschlecht, Rasse oder Herkunft? Oder ist uns das alles egal und sind wir bereit, all die Errungenschaften, die eine jahrzehntelange Phase des Wohlstands und der Freiheitlichkeit seit 1945 in Deutschland ermöglicht hat, aus Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit zu opfern?

Die Antwort sollte für jeden demokratisch denkenden und vernünftigen Menschen klar sein. Niemand kann sich ernsthaft für unsere Gesellschaft ein Klima der Aus- und Abgrenzung, des nationalistischen Revanchismus und der Beschneidung von Grundrechten wünschen, wie sie bereits bei vielen unserer europäischen Nachbarn zu beobachten sind, seitdem nationalistische und rechtspopulistische Regierungen an die Macht gekommen sind.

Robert Habecks Buch analysiert die Sprache der Populisten und zeigt, wie ihre Kommunikationsstrategien funktionieren. Er zeigt auch, wie wichtig und zentral die Sprache für die politische Meinungsbildung und die Entscheidungsfindung ist. Nur wenn alle Akteure dieselbe Sprache sprechen und sich auf eine solche gemeinsame Sprache einigen, kann Politik gelingen.

Der Kompromiss ist das Herzstück einer guten Politik. Er ist der lebendige Beweis dafür, dass auch harte Konfrontationen in der Sache keineswegs zu unversöhnlichen Grabenkriegen zwischen politischen Lagern führen müssen, sondern gerade im Gegenteil oft nur der Ausgangspunkt von heißen Debatten und Verhandlungen sind, die am Ende in einem gemeinsam ausgehandelten Kompromiss, mit dem alle gut leben können, versöhnt werden.

Wer wir sein könnten, entscheidet sich auch an der Frage, ob es den demokratischen Parteien gelingt, eine Zukunftsvision zu entwickeln, die sowohl politisch tragfähig als auch für die Bürger attraktiv ist. Von Helmut Schmidt stammte das berühmte Zitat, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Doch ohne Visionen regiert es sich schlecht in einer Zeit, in der es auf allen Ebenen — lokal, regional, national, kontinental und global — jede Menge an Problemen gibt. Ohne Vision wird man die Bürger nicht zurück an die Wahlurnen locken. Ohne Visionen überlässt man das politische Spielfeld vor allem den rechten Visionären und den National-Träumern. — Und das kann keiner wollen.

Habecks Buch ist leicht lesbar, sehr unterhaltsam und vor allem inspirierend geschrieben. Es gehört auf den Tisch eines jeden aufrechten Demokraten (um es einmal pathetisch zu sagen)! Es gehört vor allem in die Köpfe von uns allen, die wir keine Lust haben, unsere Grundrechte preiszugeben und unsere Demokratie weiter von Nationalisten und Populisten gefährden zu lassen. — Der Fehdehandschuh wurde bereits geworfen; nehmen wir also den Kampf auf und verteidigen wir unsere Sprache der Freiheit und Offenheit gegen die Angriffe der Verklemmten und Verächter der Freiheit!

 

 

 

Autor: Robert Habeck
Titel: „Wer wir sein könnten — Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht“
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462053078
ISBN-13: 978-3462053074