Der Umgangston hat sich nicht nur im öffentlichen Raum, sondern vor allem im politischen Umfeld grundlegend geändert. Es scheint, als ob die Politik das Gefühl für die Etikette verloren hätte oder schlimmer: als ob es politische Kräfte gibt, die sich ganz bewusst außerhalb des moralischen Wertesystems stellen, um es von außen zu bekämpfen.
Letzteres scheint mit dem Aufstieg der AfD in Deutschland und mit dem Erfolg rechtspopulistischer und nationalistischer Bewegungen in ganz Europa in einem direkten Zusammenhang zu stehen. Prominente Beispiele finden sich auch außerhalb Europas — in Russland und den USA, in Brasilien, im Nahen Osten, in Indien und sicherlich auch in Asien.
Es ist demzufolge das globale Problem einer disruptiven Politik, durch welche die bislang bestehenden diplomatischen und parlamentarischen Gepflogenheiten, der Konsens eines gleichberechtigten politischen Diskurses sowie die Anerkennung der Person unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe in den demokratischen Gesellschaften bewusst in Frage gestellt werden.
Provokationen und disruptives Verhalten, Verweigerung des Diskurses, die bewusste Verwendung von historisch belasteten Begriffen sowie die gezielte Streuung von Fake News — also von Lügen — gehören zum Grund-Repertoire jener Kräfte, die die demokratischen Medien ablehnen und als „Lügenpresse“ bezeichnen.
Wir beobachten den Angriff populistischer Kräfte auf die parlamentarischen Demokratien. Dass wir Zeugen dieser neuen Qualität von politischen Auseinandersetzungen sind, ist wahrlich kein Grund zur Freude. Wir werden zwar später einmal sagen können, dass wir „dabei gewesen“ sind, doch entscheidend ist, wie die Geschichte ausgeht und was jeder Einzelne von uns dagegen tun kann.
Denn unsere Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde erkämpft und erstritten. Wenn jetzt wieder eine nationalistische Partei im Bundestag sitzt, die auf die Spaltung der Gesellschaft zielt und hierzu jene Freiheiten unserer demokratischen Grundordnung für ihre populistischen Zwecke missbraucht, dann ist dies mehr als nur ein Alarmsignal an die demokratischen Parteien. Es ist ein Weckruf an alle, sich bewusst gegen solche Zersetzungstendenzen zu stellen und für den Erhalt der Demokratie einzutreten.
Die Politikwissenschaftlerin Astrid Séville hat sich mit dem „Sound der Macht“ beschäftigt und eine „Kritik der dissonanten Herrschaft“ vorgelegt. Ihr Buch ist das Ergebnis jahrelanger Forschungen zum sprachlichen Klima der Parteienlandschaft. Ihr Fazit ist eindeutig: „Im Zeitalter politischer Anfeindungen brauchen wir mehr denn je einen liberaldemokratischen Sound der Macht, mit dem wählbare Alternativen formuliert, die hohe Kunst des politischen Kompromisses hervorgehoben und fatale Fantasien gesellschaftlicher Gesamtsteuerung zerstreut werden.“
Das Problem der etablierten Parteien ist ihre (auch sprachliche) Loslösung vom Wählervolk. Wir sprechen schon längst nicht mehr dieselbe Sprache. Bürger fühlen sich in der Politik nicht mehr repräsentiert, von den Repräsentanten nicht gehört. Jahre- und Jahrzehntelang hat die Politik sich in jenen guten Zeiten wirtschaftlicher Prosperität und Stabilität in ihre Echoräume zurückgezogen und sich im Zeichen der Globalisierung und des Neoliberalismus aus vielen Aktionsfeldern verabschiedet. Plötzlich war nicht mehr die Politik, sondern die Wirtschaft die steuernde Kraft, und die Politik begab sich immer stärker in die Abhängigkeit von Lobbyisten.
Einerseits boomte die globale und auch die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten; andererseits rückte man vor allem die angebliche Bedrohung der inneren Sicherheit durch den internationalen Terrorismus ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung und schaffte es auf diesem Weg, von den eigentlichen Problemen einer durch die sozialfeindlichen Kräfte des Neoliberalismus mehr und mehr gespaltenen Gesellschaft abzulenken.
Je mehr der Lobbyismus zur steuernden Kraft der Politik wurde, desto wichtiger wurde die Aufgabe der Medien zur Vermittlung von stabilitätsfördernden Nachrichten, mit denen die Politik in ihrer Arbeit bestätigt wurde; umso größer wurde aber auch der Abstand der Politiker zu ihren Wählern.
Das Ergebnis war und ist eine Atmosphäre der Abkopplung der Politik von der gesellschaftlichen Realität — der ideale Nährboden für antidemokratische Protestbewegungen und für die Suche nach einer „Alternative für Deutschland“. Ungewollt kam die geopolitische Situation 2015 jenen nationalistischen Kräften zu Hilfe und fungierte in fataler Weise als eine Art Brandbeschleuniger:
Die erfolgreiche Migration von Flüchtenden aus dem Nahen Osten sowie die Offenheit und Hilfsbereitschaft der großen Mehrheit der Deutschen war Wasser auf den Mühlen der Populisten und machte es ihnen leicht, sich in ihrer Rolle als Alternative und als Sprachrohr für die Entrechteten und Abgehängten in unserer Gesellschaft zu profilieren.
Wer sich als „Alternative“ versteht, darf den Diskurs verweigern, Kompromisse als Schwäche interpretieren und in letzter Konsequenz auch das bestehende demokratische System als eine Maschinerie der Unterdrückung und Ausbeutung abwerten. Aus einer solchen Perspektive werden die öffentlichen Medien zu willigen Erfüllungsgehilfen einer politischen Klasse und zur „Lügenpresse“, deren Berichterstattung vor allem dazu dient, die eigenen Taten zu feiern und den politischen Gegner zu desavouieren.
Wir beobachten also mit dem Aufkommen der Neuen Rechten eine Umwertung aller Werte, einen Kampf um die politische Sprachhoheit sowie den kontrollierten Missbrauch demokratischer Freiheiten zur Bekämpfung eben jener Freiheiten.
Wie entscheidend die Sprache in politischen Prozessen ist, kann nicht hoch genug betont werden. Die Autorin zeigt anhand vieler Beispiele aus dem politischen Alltag, wie die Strategie der populistischen und nationalistischen Bewegungen funktioniert. Ihr Buch ist anschaulich geschrieben und macht den Leser mit dem komplexen Zusammenhang von Sprache und Politik vertraut.
Fatale Floskeln wie jene von der „Alternativlosigkeit“ oder von der Notwendigkeit des politischen Gegners, erst einmal seine „Hausaufgaben zu machen“, bevor man ihn ernst nimmt, analysiert sie und deckt die rhetorischen Instrumente jener sprachlichen Kriegsführung auf. Es gibt eben viele Möglichkeiten, die Lösung von Konflikten von Beginn an zu unterbinden — indem man die eigene Lösung als „alternativlos“ beschreibt oder den Gegner wie einen dummen Schüler abwertet …
Eines der größten Versäumnisse der Politik der letzten Jahre ist vielleicht die negative Bewertung des Kompromisses. Kompromisse werden mittlerweile in der öffentlichen Wahrnehmung als etwas Schlechtes angesehen, dabei ist der Kompromiss das Herzstück jeder erfolgreichen Politik. Gäbe es keine Kompromisse, so gäbe es nur unterschiedliche Standpunkte, die sich mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstünden und von denen einer am Ende ausgewählt würde. So machen Diktatoren und Autokraten Politik.
Eine Demokratie lebt jedoch von der Debatte und dem erfolgreichen Ringen um einen Kompromiss, der konsensfähig ist. Die Neuen Rechten und Nationalisten schaffen es jedoch immer besser, den Kompromiss in der öffentlichen Wahrnehmung als etwas Fragwürdiges und Suboptimales zu brandmarken, und die etablierten politischen Parteien scheinen diesem Versuch nichts entgegenzusetzen.
Astrid Séville lehrt Politische Theorie an der LMU München. Sie ist Mitglied im Jungen Kolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie in der Jungen Akademie Mainz. Mit anderen Worten: Sie ist jung, und dementsprechend frisch und unverbraucht geht sie an die Beschreibung der bestehenden politischen Sprachverhältnisse heran. Ihr Buch macht Mut und Lust, sich aktiv an der politischen Diskussion zu beteiligen und sich für die Bewahrung der Demokratie in unserem Land einzusetzen.
Das kann und wird gelingen, wenn sich die schweigende Mehrheit der Gesellschaft zu Wort meldet und ihre Vorstellungen von einer offenen und bunten Gesellschaft gegen die geistigen Brandstifter und gegen jene Minderheit verteidigt, die von einer hermetischen deutschen Volksgemeinschaft träumen. Es ist der Kampf von Utopia gegen Retrotopia. Um aus diesem Kampf als Sieger hervorzugehen, braucht unsere Gesellschaft jedoch eine möglichst konkrete Vorstellung von einer lebenswerten demokratischen Zukunft — Diese zu entwickeln und in eine sprachliche Form zu gießen, wäre aber vor allem die Aufgabe der Politik.
Autor: Astrid Séville
Titel: „Der Sound der Macht — Eine Kritik der dissonanten Herrschaft“
Taschenbuch: 192 Seiten
Verlag: C.H.Beck
ISBN-10: 3406727220
ISBN-13: 978-3406727221