Richard J. Evans: „Das europäische Jahrhundert — Ein Kontinent im Umbruch 1815 – 1914“

In gewissen Zeitabständen gibt es immer wieder Historiker, die sich nicht scheuen, einen großen Wurf zu wagen. Nicht immer ist ein solches Großprojekt von Erfolg gekrönt, und mancher Wissenschaftler verhebt sich an der übergroßen Last der schieren Faktenfülle einer zu breiten oder zu umfangreichen Thematik.

Ähnliches ließe sich auch bei dem vorliegenden Projekt einer europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts befürchten, die Richard J. Evans — Regius Professor und bis 2017 Professor für Neuere Geschichte an der Cambridge University — nun vorlegt. Doch sein Versuch einer umfassenden Historiographie des 19. Jahrhunderts darf zurecht als geglückt bezeichnet werden.

Über 1.000 Seiten liegen auf dem Tisch des Rezensenten, und man fragt sich instinktiv, ob bzw. wann man das alles lesen soll? Die Frage ist schnell beantwortet, nachdem man das Vorwort gelesen hat: Evans ist nicht nur ein international renommierter Historiker, sondern auch ein außerordentlich talentierter Erzähler, dem es gelingt, auch die komplexen Zusammenhänge in einer Art und Weise zu schildern, dass es sowohl dem wissenschaftlichem Leser (dem sowieso) als auch dem interessierten Laien verständlich wird. Mit anderen Worten: Nach dem Vorwort kann man eigentlich nicht anders, sondern man will dieses dicke Geschichtsbuch vom Anffang bis zum Ende lesen …

Selbst wer ohne Vorkenntnisse sich in das Abenteuer dieser umfangreichen Lektüre stürzt, darf sicher sein, dass ihn der Autor niemals im Regen stehen lässt, sondern immer die zeit findet, den Leser mit ausreichendem Hintergrundwissen zu versorgen für den Fall, dass er dieses noch nicht hat. Gleichwohl ist die Lektüre natürlich auch für den wissenschaftlichen Leser (Studenten, Postdocs usw.) ausgesprochen nutzbringend und fruchtbar.

Der wissenschaftliche Apparat fällt für diesen Seitenumfang mit 56 Seiten relativ schmal aus, was bemerkenswert ist. Doch es verweist nur auf die Tatsache, dass der Autor sich nicht darin gefällt, unzählige Zitate in seinen Text zu packen, die zu Lasten der Lesbarkeit seine große Belesenheit signalisieren sollen. Ganz im Gegenteil ist dem Autor gerade an einer guten Lesbarkeit gelegen, ein typisches Merkmal angelsächsischer Sach- und Fachbücher.

Interessant ist die Wahl des Zeitraums (1815 – 1914) für das „europäische Jahrhundert“, welche abweicht von dem von Eric Hobsbawm geprägten Begriff des „langen 19. Jahrhunderts“ (1789 – 1914). Die bewusste Aussparung der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege überrascht ein wenig, schließlich sind sie doch die unmittelbaren Ereignisse, die zur Konstellation von 1815 geführt haben — und als solche gehören sie doch untrennbar zur europäischen Geschichte.

Doch Richard J. Evans liefert die Erklärung für diese Auswahl gleich im ersten Abschnitt des Buches. Der vorliegende Band ist nämlich Teil der Reihe „Penguin History of Europe“, dessen direkter Vorgänger unter dem Titel „The Pursuit of Glory“ die Zeit von 1648 bis 1815 behandelte. Es sind also ganz pragmatische Gründe, die zu der gewählten Zeitspanne geführt haben. —Dass es keine Entscheidung „gegen“ die Epochenbildung von Eric Hobsbawm gewesen sein mag, darauf deutet auch die Widmung dieses vorliegenden Bandes hin: „In memoriam Eric Hobsbawm (1917 – 2012)“.

Das Buch teilt sich in acht große Abschnitte, die in jeweils chronologischer Reihenfolge das gesamte 19. Jahrhundert durchschreiten und seine vielschichtige Betrachtung unter ein jeweiliges Motto stellen: das Erbe der Revolution, die Widersprüche der Freiheit, der europäische Frühling, die soziale Revolution, die Eroberung der Natur, das Zeitalter des Gefühls, der Aufstieg der Demokratie und die Auswirkungen des Imperialismus.

Die Erzählkraft des Historikers ist beeindruckend. Ihm gelingt es scheinbar mühelos, Geschichte greifbar zu machen und aus trockenen historischen Daten lebendige Erzählungen zu schaffen. So wird „Das europäische Jahrhundert“ von Richard J. Evans zu einer faszinierenden Lektüre einer transnationalen Kultur- und Politikgeschichte Europas, welche uns verstehen lässt, wie groß und wertvoll die Errungenschaften der Demokratie und der Freiheit sind. Unbedingt lesenswert! Denn nur wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart.

 

 

 

Autor: Richard J. Evans
Titel: „Das europäische Jahrhundert — Ein Kontinent im Umbruch 1815 – 1914“
Gebundene Ausgabe: 1024 Seiten
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt (15. Oktober 2018)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 9783421047335
ISBN-13: 978-3421047335
ASIN: 3421047332