Steven Pinker: „Aufklärung jetzt — Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung.“

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Das schrieb Immanuel Kant in seinem berühmten Essay „Was ist Aufklärung?“ im Jahre 1784. Als Kant diese kurze Schrift verfasste, war jene Epoche, die wir heute als Aufklärung (Enlightenment, Siècle des Lumières, Siglo de las Luces, просвещéние) bezeichnen, schon seit einigen Jahrzehnten ein internationales Phänomen, eine Zeit des Aufbruchs und des allgemeinen „Ausgangs des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“.

Das „sapere aude“, der Schlachtruf der Wissenschaften in ihrem Kampf gegen die kirchlichen Dogmen, führte zu einem bislang ungekannten Siegeszug des menschlichen Denkens und zu einer Befreiung des Menschen von den Fesseln der Unwissenheit und der Religion.

„Die Epoche war ein Füllhorn an — zum Teil widersprüchlichen — Ideen, aber vier Themen einten sie: Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt.“ Diese vier Themen setzt auch der renommierte Harvard-Professor und Psychologe Steven Pinker auf seine Agenda und zeigt in seinem neuen Buch „Aufklärung jetzt“, wie nötig wir eine Rückbesinnung auf diese Errungenschaften haben, die aus jener Zeit der Aufklärung vor gut 250 Jahren stammen.

„Das vorliegende Buch ist mein Versuch, die Ideale der Aufklärung in der Sprache und gemäß den Konzepten des 21. Jahrhunderts neu zu formulieren.“ Das ist eine große Aufgabe, die sich Pinker da gestellt hat.

Als Psychologe weiß er, dass er seinen Versuch dadurch absichern muss, dass er zunächst bei der menschlichen Wahrnehmung ansetzt: „Zunächst entwerfe ich einen Rahmen zum besseren Verständnis der menschlichen Existenz aufgrund der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft — wer wir sind, woher wir kommen, mit welchen Herausforderungen wir konfrontiert werden und wie wir ihnen begegnen können.“

Um sein Vorhaben einer Aktualisierung der Ideale der Aufklärung für das 231. Jahrhundert auch wissenschaftlich zu untermauern, bedient sich Steven Pinker der Mittel eines jeden Naturwissenschaftlers: Er belegt seine Hypothesen mit Daten. Und genau hier liegt vielleicht das Grundproblem dieses wahrlich beeindruckenden Projektes.

Steven Pinker liefert mit seinem neuen Buch „Aufklärung jetzt“ vor allem eine Art „Wohlfühl-Lektüre“ für Naturwissenschaftler. Er wirft mit Statistiken um sich, die alle zweifelsfrei belegen, dass Fortschritt keine Einbildung ist, sondern eine Tatsache.

Alles spricht dafür, es gibt viele gute Gründe, fröhlich zu sein — und doch … Seinen Argumenten fehlt die Seele. Der Autor schreibt mit Leidenschaft des Naturwissenschaftlers, ja, er brennt regelrecht für seine Vision. Es ist die ganze Wucht der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Pinkers Missionsarbeit an der Menschheit antreibt. Aber es ist nicht die Art von Begeisterung, welche in der Lage ist, auch den normalen Durchschnittsmenschen mitzunehmen.

„Aufklärung jetzt“ vertritt die These, dass das Projekt Aufklärung nach 250 Jahren Testlauf durchaus erfolgreich ist. „Die Aufklärung hat funktioniert — möglicherweise handelt es sich um die größte kaum erzählte Geschichte aller Zeiten. Und weil dieser Triumph so selten besungen wird, erfahren auch die ihr zugrundeliegenden Ideale der Vernunft, der Wissenschaft und des Humanismus kaum Beachtung.“

Ziemlich schnell hat der Autor auch schon den Hauptschuldigen in dieser Angelegenheit ausgemacht: die Medien. In den Nachrichten hört man niemals etwas über langfristige Entwicklungen, vor allem dann nicht, wenn es positive Entwicklungen sind. Und die gibt es seit dem Beginn der Aufklärung vor 250 oder 300 Jahren haufenweise:

In nahezu allen Lebensbereichen haben Wissenschaft, Humanismus und allen voran die Vernunft dafür gesorgt, dass es den Menschen insgesamt immer besser geht: Kindersterblichkeit, Hungersnöte, Seuchen, Kriege usw. wurden erfolgreich bekämpft. Die Lebenserwartung und der Lebensstandard haben sich immer weiter verbessert. Der Kampf um gleiche rechte für alle Bürger, unabhängig von Geschlecht, Rasse oder sexuellen Orientierungen wurde durchgesetzt. Die Zerstörung der Natur und der Lebensräume wurde durch die Entwicklung neuer nachhaltiger Technologien auf ein Minimum reduziert. Und noch viele andere Errungenschaften der Wissenschaft haben der Menschheit zu einer nie gekannten Lebensqualität verholfen — insgesamt.

Nur leider wird zu wenig darüber gesprochen! Nachrichten leben von Ereignissen, nicht von langfristigen Entwicklungen. Die langfristigen Erfolge der Aufklärung (Vernunft, Wissenschaft und Humanismus) kommen in den Nachrichten nicht vor. Dafür jedoch werden wir täglich mit vielen schlechten Nachrichten bombardiert; wir lesen von Kriegen und Terroranschlägen, Umweltkatastrophen und der allgegenwärtigen Gewalt, die Menschen gegen andere Menschen und die Natur richten. Von der Heil und Wohlstand bringenden Kraft der aufklärerischen Gedanken wird nicht berichtet.

Viel wohler fühlen sich die Menschen in einem Gefühlszustand des Zweifelns. Die vier Grundideale der Aufklärung haben sich zwar über die Jahrhunderte als Grundvoraussetzung für unsere offenen und liberalen Gesellschaften des Westens fest im Geist verankert, aber sie werden niemals explizit gewürdigt. Mit anderen Worten: Wir erfreuen uns nicht an diesen Freiheiten des Denkens und den Siegeszug der Vernunft, sondern nehmen alles als gegeben und selbstverständlich. Doch genau das ist unser Problem.

Denn es gibt andere Gesellschafts- und Regierungsformen; es gibt andere Kulturen und andere Lösungsvorschläge zur Weltdeutung als jene der Aufklärung. Es gibt zentralistische, antidemokratische und diktatorische Regierungsformen; es gibt Gottesstaaten und fundamentalistische Bewegungen; es gibt populistische, nationalistische und rassistische Kräfte, die selbst in unseren westlichen Demokratien immer lauter werden und mit einfachen Lösungsvorschlägen die von der Politik enttäuschten Mehrheiten für sich zu gewinnen suchen.

All dies ist auch Steven Pinker mehr als bewusst, auch wenn er betont, dass er sein Buch bereits vor der Kandidatur Donald Trumps für das Amt des Präsidenten geschrieben hat. In seiner kraftvoll geschriebenen und mit Hunderten von Statistiken untermauerten Apologie der Ideale der Aufklärung versucht uns Steven Pinker bewusst zu machen, dass wir glücklich und dankbar sein dürfen, in der besten aller Welten zu leben.

Was der weltberühmte Harvard-Professor und Psychologe in seiner (rational durchaus nachvollziehbaren) Begeisterung übersieht, ist die „metaphysische Obdachlosigkeit“ der Leser, welche spätestens durch den Siegeszug des Neoliberalismus und die digitale Revolution ausgelöst wurde.

Die Menschen suchen einen Halt, und sie finden ihn nicht in der Ratio allein und auch nicht mehr in den Naturwissenschaften. Diese haben ihre Unschuld schon lange verloren, und jeder weiß, dass man jede Technologie für den Menschen, aber auch genauso gut gegen ihn verwenden kann.

Sie finden ihn auch nicht einmal mehr in einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Das liegt nicht zuletzt an der Selbstauflösung der großen Volksparteien und an ihrer nahezu vollständigen Abkoppelung von den Wählern. Dieser Vorwurf der Entfremdung ist so alt wie die Parteien selbst, doch nie war er so berechtigt wie heute.

Die Menschen suchen nach einem Halt, nach einem festen Untergrund, auf dem sie ihre Achterbahnfahrt durch unsere turbulenten Zeiten einigermaßen sicher überstehen können. Nachdem unsere Gemeinschaften immer schneller wegbrechen und jeder nur noch sich selbst der Nächste ist, finden sie diesen Halt auch verstärkt in den sozialen Medien mit ihren Netzen aus Zweck-Freundschaften und den Echoräumen, in denen ihre eigene Meinung bestätigt wird.

All diesen Tendenzen der Segregation und Separation, der Sehnsucht nach Identität und eines digitalen Narzissmus, der Geschichtsvergessenheit und der Politikverdrossenheit versucht Steven Pinker sein Aufklärungs-Projekt für das 21. Jahrhundert entgegen zu setzen. Ob es ihm gelingt, nicht nur die Intellektuellen und die Naturwissenschaftler im Lande zu erreichen, sondern auch den Man und die Frau auf der Straße, muss leider bezweifelt werden.

Gleichwohl ist Steven Pinkers „Aufklärung jetzt“ ein starkes und beeindruckendes Plädoyer für mehr Zuversicht und Zufriedenheit sowie für ein wenig Stolz, in einer Zeit und in jenem Teil der Welt zu leben, in dem Vernunft, Wissenschaft und Humanismus zum Wohle des Menschen und zum Fortschritt der Menschheit eingesetzt werden. — Daran sollten wir uns erfreuen, daran sollten wir öfter denken, und dafür sollten wir uns auch aktiv einsetzen, um es gegen die Feinde der Vernunft, der Demokratie und der Freiheit zu verteidigen!

 

 

Autor: Steven Pinker
Titel: „Aufklärung jetzt — Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung.“
Gebundene Ausgabe: 736 Seiten
Verlag: S. Fischer
ISBN-10: 310002205X
ISBN-13: 978-3100022059