Nathalie Boegel: „Berlin — Hauptstadt des Verbrechens. Die dunkle Seite der Goldenen Zwanziger“

Seitdem Volker Kutschers Roman „Der nasse Fisch“ über das dunkle Berlin der späten Weimarer Republik unter dem Titel „Babylon Berlin“ verfilmt wurde, dann zunächst im Pay-TV und jetzt auch im Free-TV gezeigt wurde, scheint es an allen Ecken und Enden „Sidekicks“ zu geben — Produkte, die im Fahrwasser dieser über alle Maßen erfolgreichen TV-Serie erscheinen und sich mit den verschiedenen Aspekten der sogenannten „Goldenen“ Zwanzigerjahre befassen, die in Wirklichkeit gar nicht so golden waren.

Ein interessantes Buch, das in diesem Zusammenhang bei DVA erschienen ist, stammt von der Fernsehjournalistin Nathalie Boegel und befasst sich mit den dunklen Seiten der „Hauptstadt des Verbrechens“, als welche das Berlin der 1920er Jahre von ihr bezeichnet wird.

Das Prädikat „Hauptstadt des Verbrechens“ ist einerseits sehr plakativ, andererseits scheint es durchaus berechtigt zu sein, denn in keiner anderen deutschen Stadt wurde so viel geklaut, betrogen, gemeuchelt und gemordet, wie seinerzeit in Berlin. In keiner anderen Stadt wurde aber auch so erfolgreich kriminalisiert: Allen voran war es Kommissar Ernst Gennat, wegen seiner Leibesfülle auch der „volle Ernst“ genannt, welcher mit seinen neuen Untersuchungsmethoden die Kriminalistik in die Moderne führte.

Gennat war der Erste, der die Tätersuche professionalisierte, indem er tat, was man heute „Profiling“ nennt: Er erarbeitete psychologische Profile und legte Täterkarteien an; die Spurensuche wurde ebenfalls professionalisiert; am Tatort fanden sich viele wichtige Hinweise, die so manchen Täter entlarvten. Früher wurde der Tatort oft noch von den Polizisten gesäubert oder die Leiche wieder in den Sessel gesetzt, bevor der Kommissar eintraf und sich ein Bild machen konnte. Bei Gennat blieb am Tatort alles unverändert, und die Spurensicherung konnte alles im Originalzustand dokumentieren.

Berlin war mit seinen über vier Millionen Einwohnern ein Schmelztiegel, ein brodelndes Gemisch aus Menschen aus allen Schichten und von allen Enden des deutschen Reiches. In der Hoffnung auf Arbeit und Lohn strömten die Massen in die Hauptstadt. Weil der Kuchen aber durch die massenhafte Zuwanderung nicht größer wurde, waren soziale Spannungen an der Tagesordnung.

Nach dem verlorenen Krieg war die Not groß, doch Not macht auch erfinderisch. So bildeten sich schon früh sogenannte „Ringvereine“, die zunächst als eine Art Selbsthilfe-Organisationen zur Resozialisierung von ehemaligen Straftätern gedacht waren, sich aber schnell als bandenähnliche Strukturen über die gesamte Innenstadt verteilten.

Der Ruf der Berliner Unter- und Halbwelt war damals legendär. Berlin galt als die „Hauptstadt der Sünde“, und das europaweit! Wer etwas erleben wollte, kam nach Berlin. Heute würde man von einer Party-Hauptstadt sprechen, in der alle Laster gelebt und gefeiert wurden. Ob Rauschgift, durchtanzte Nächte, freie Liebe oder sexuelle Ausschweifungen aller Art: Berlin war „the place to be“ in den 1920er Jahren.

Nathalie Boegel ist Fernsehjournalistin und produziert für „Spiegel-TV“ und „Spiegel Geschichte“ viele Dokumentationen; unter anderem hat sie auch eine Fernsehdokumentation mit dem Thema „Sündenbabel Berlin — Metropole des Verbrechens 1918-1933“ veröffentlicht. An den Materialien für diese Dokumentation orientiert sich auch das vorliegende Buch.

Nathalie Boegel schreibt so spannend und unterhaltsam, wie auch die Dokumentationen von „Spiegel-TV“ gestaltet sind: manchmal etwas zu grell und reißerisch, aber niemals langweilig und zu faktenlastig.

Dabei bietet dieses sauber gearbeitete und schön gestaltete Buch einen guten Überblick über die „spektakulärsten Kriminalfälle aus Berlins wildesten Jahren“. Hier sind sie alle vereint: die Brüder Sklarek und Sass, der Massenmörder Schumann, der Wettbetrüger Klante, der Hochstapler Barmat und viele andere; sogar dem Polizistenmord von Erich Mielke wird ein ganzes Kapitel gewidmet.

Die Autorin stellt aber auch andere wichtige Protagonisten der Weimarer Republik vor: den berühmten Strafverteidiger Dr. Dr. Erich Frey, natürlich Kommissar Erich Gennat, aber auch Dr. Magnus Hirschfeld, den Sexualwissenschaftler und Gründer des weltweit ersten Instituts für Sexualwissenschaft, der sich für die Abschaffung des § 175 StGB eingesetzt hat.

Doch Nathalie Boegel vergisst bei ihrem Kriminal- und Sittenbild der Weimarer Zeit auch nicht die Spätphase der Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Die zentrale Rolle von Goebbels und der politische Terror der Schlägertrupps der Nazis werden eindrücklich beschrieben.

„Berlin — Hauptstadt des Verbrechens“ ist eine spannende Lektüre und liefert fundiertes Hintergrundwissen über die turbulente Zeit der 1920er Jahre in Berlin. Wer von der Serie „Babylon Berlin“ (oder den Krimis von Volker Kutscher) begeistert ist, findet in diesem Buch eine Fülle von wichtigen Informationen über das „wahre“ Leben auf den Straßen Berlins und den dunklen Nächten in der damaligen „Hauptstadt des Verbrechens“.

 

 

 

Autor: Nathalie Boegel
Titel: „Berlin — Hauptstadt des Verbrechens. Die dunkle Seite der Goldenen Zwanziger“
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt (17. September 2018)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 9783421048325
ISBN-13: 978-3421048325
ASIN: 3421048320